Himmel ueber fremdem Land
deutlich sprechen wollte, denn zaghaft vorgebrachte Worte würden ihren Vater vermuten lassen, sie meine sie nicht ernst genug. So war es immer gewesen. Bei ihr und ihren Brüdern, bei ihrem Vater oder ihrer Mutter, als diese selbst noch Kinder waren, bei den Nachbarn im Dorf und vielleicht auch hier, in den beengten Wohnverhältnissen des Scheunenviertels. In Berlin verhinderten freilich die Anonymität und die Überbevölkerung, dass Kinder den anderen im Unterricht oder bei der Arbeit auf dem Feld ansehen konnten, ob sie am Vortag vom Hausvorstand gezüchtigt worden waren.
***
Die Schmerzen trieben Lieselotte immer wieder die Tränen in die Augen. Es half auch nicht, dass Peter, sobald die Eltern in das angrenzende Zimmer gewechselt hatten, von seiner Matratze aufstand und sich zu ihr auf die Couch drückte. Vermutlich brauchte der verstörte Junge vielmehr ihren Trost und das Gefühl von Geborgensein, als dass er sie trösten wollte.
Die junge Frau kämpfte nicht mehr gegen ihren wachsenden Hass auf das Erziehungssystem an, das wohl zu ihrer Zeit gehörte. Dabei wusste sie sehr gut zu unterscheiden, was ihr Vater von seinem Vater und seiner Generation übernommen hatte und was in der Verzweiflung und der tagtäglichen Demütigung begründet war, unter denen er hier in Berlin litt.
Da mochten die Redner auf den Versammlungen des Arbeiterjugendvereins wieder und wieder propagieren, die Herrscher und ihre Gefolgsleute sollten vom Thron gestoßen werden, damit das Volk die Geschicke des Landes leiten könne. Solange in den Familien die Männer in derselben Selbstverständlichkeit über die ihnen anvertrauten Familienmitglieder herrschten, sie unterdrückten und züchtigten und jeden Versuch einer Mitbestimmung, jedes kritische Wort übelnahmen, konnte sich doch in dem großen Getriebe der Politik eines Landes nichts ändern!
Vielleicht musste die Veränderung aus den Keimzellen der Familien kommen; die Revolution gegen die Eltern, gegen die Ehemänner, gegen die Lehrer, gegen die Ortsvorsteher beginnen und sich dann erst auf die obersten Ebenen eines Staates konzentrieren?
Unter Zuhilfenahme ihres Fußes schob Lieselotte Peter ein Stück von sich an die feuchte, muffige Zimmerwand. Ihr war heiß und der Schweiß, der ihr über den Rücken in die Wunden lief, vervielfachte ihren Schmerz.
Ob ihre Überlegung zutreffend war? Wenn in den Familien eines Landes Unterdrückung und Anarchie herrschten, führte das dazu, dass ein ganzer Staat unter Unterdrückung und Anarchie litt? Hieß das im Rückschluss, dass sich ein Staat, dessen Familien in Liebe und Frieden, in Gleichberechtigung und einem respektvollen Miteinander zusammenlebten, durch dieselben Eigenschaften auszeichnete?
Diese Fragen musste sie demnächst einmal Minna Cauer und Hedwig Dohm stellen, vielleicht auch in einem Artikel der Zeitung Frauenwohl thematisieren, nahm Lieselotte sich vor.
Mit einem unterdrückten Aufstöhnen drehte sie sich auf die andere Seite. Der Schmerz in ihrem Rücken und die Demütigung in ihrem Herzen hinderten sie am Schlafen.
So wandten sich ihre Gedanken irgendwann Demy zu. War das Mädchen in den Niederlanden freier erzogen worden, als es die Kinder im Deutschen Reich erlebten? Demy schmunzelte oft über die Ernsthaftigkeit Lieselottes, über ihre Korrektheit und Steifheit und ihre fast zwanghafte Bereitschaft – so nannte Demy es –, sich unterzuordnen.
Lieselotte richtete ihre Augen auf die letzten roten Glutnester hinter der halb geöffneten Backofentür. Damit würde es bald vorbei sein, nahm sie sich fest vor. Sie würde sich nicht länger unterordnen, weder ihrem Vater noch der Herrschaft der Männer oder einer Regierung, die sich wenig darum kümmerte, was der Wille des Volkes war. Die Kaiserfamilie und die sie wie Schmeißfliegen umschwirrenden Adeligen mussten vom Thron gestoßen werden.
Wütend presste Lieselotte ihre Lippen aufeinander. Seit heute wusste sie: auch ihre Freundin Demy gehörte der privilegierten Klasse an! Aber Demy verhielt sich so ganz anders. Sie sorgte sich um sie und um die Zwillinge. Sie hatte für Helene Hilfe geholt, selbst wenn diese zu spät gekommen war, und sie hatte mehr als einmal über ihren Tod geweint. Ob es noch mehr von ihrer Sorte gab?
Ihre Überlegungen drifteten zu Joseph Meindorff ab, Demys Schwager. Trotz ihrer Schmerzen huschte ein triumphierendes Lächeln über Lieselottes Gesicht. Sie verfügte über ein Wissen, welches ihr, zur rechten Zeit gebraucht, einmal
Weitere Kostenlose Bücher