Himmel ueber fremdem Land
Scheffler drehte sich schwerfällig nach Demy um und musterte sie mit blutunterlaufenen Augen. Diese war überaus erleichtert, dass sie zumindest ihren modischen Hut nicht mehr trug.
»Sie ist ausstaffiert wie eine dieser blutsaugenden Adeligen. Ihr fandet sie beim Schloss Charlottenburg? Habt Ihr eine Prinzessin oder eine Fürstin entführt? Oder will sie hier spionieren, ob wir gegen das Kaiserpaar sind?«
»Der Herr Vater sollte sich wirklich nicht so aufregen. Wir bringen dem Herrn Vater doch niemanden ins Haus, der unfreundliche Absichten gegen ihn oder seine Familie hegt!« Lieselotte stellte sich zwischen Demy und ihren Vater und bedeutete ihr hinter ihrem Rücken, sie solle in Richtung Tür ausweichen.
Demy gehorchte, obwohl ihre Knie vor Furcht zitterten. Niemals zuvor war ihr ein Mann begegnet, der in so eigenartiger Weise besorgt um seine Kinder zu sein schien, zugleich aber herrisch und bedrohlich auf sie wirkte. Mit weit aufgerissenen Augen behielt sie Lieselottes Vater im Blick, während sie sich auf nur widerwillig gehorchenden Beinen der Tür näherte. Als ihre Rechte die Klinke ertastete, umschloss sie sie mit zitternden Fingern.
Lieselottes Vater verlor jedoch schnell das Interesse an der Fremden. »Wo ist eure Frau Mutter?«
Willi warf seiner älteren Schwester einen Hilfe suchenden Blick zu. »Der Herr Vater weiß doch, dass die Frau Mutter um diese Uhrzeit noch bei der Arbeit ist.«
Der Mann fluchte fürchterlich, wischte Willi mit einer Armbewegung beiseite, sodass dieser gegen den Küchentisch prallte, und riss den Vorhang zum Schlafraum auf.
Demys Blick fiel in einen winzigen, ebenfalls düsteren Raum, dessen einziges Möbelstück ein schmales Bett war. Auf diesem hockte ein junger Mann, der gerade seine Schuhe anzog.
»Raus hier, fauler Kerl!«, donnerte Schefflers Stimme. Der Schlafbursche Anton gehorchte augenblicklich, schnappte seine Jacke und den noch fehlenden Schuh und floh in die Küche.
Energisch zerrte Scheffler den Vorhang zu, und Lieselotte atmete auf. Sie bat Demy, in den Flur zu treten, bevor sie hinter ihnen leise die Tür schloss.
»Tut mir leid, Demy. Ich wusste nicht, dass mein Vater heute so früh nach Hause kommt.«
»Er ist betrunken«, sagte Demy und stellte damit klar, dass sie seinen alkoholisierten Zustand sehr wohl bemerkt hatte.
»Früher hat er nicht getrunken, und er war nicht gewalttätig. Erst seit wir in Berlin leben, er keine anständige Arbeit bekommt und Mama für unseren Unterhalt schuftet, ist das alles mit ihm passiert.«
Demy verstand. Dieser Mann war fast ebenso breit wie hoch, und er wirkte tatsächlich wie jemand, der sein Leben lang harte Arbeit verrichtet hatte. Nun war er zur Untätigkeit verdammt und musste auch noch die Demütigung erleben, dass seine Frau die Familie allein ernährte.
»Ich muss wieder hinein. Vielleicht kann ich Vater beruhigen, indem ich ihm etwas koche.« Mit diesen Worten drückte Lieselotte zum Abschied Demys Arm. Bevor diese reagieren konnte, war das Mädchen bereits in der Wohnung verschwunden. Zurück blieb eine verstörte Demy in einem stockdunklen Flur.
Ihre Sinne waren aufs Äußerste angespannt; der Schreck über das Erlebte saß tief. Sie hörte das Knacken des Gebälks und die Stimmen aus den umliegenden Wohnungen. Ein kalter Schauer jagte durch ihren Körper und ließ sie erzittern. Die muffige Feuchtigkeit des Hauses erschien ihr nun noch stärker als in der Kellerwohnung der Schefflers.
Sie atmete auf, als sie nach ein paar tastenden Schritten die Tür in den Innenhof fand, doch ihre Erleichterung dauerte nur so lange, bis sie bemerkte, dass unterdessen die Nacht hereingebrochen war.
Mit hastigen, von den Wänden hohl widerhallenden Schritten lief sie bis zum Torbogen. Unsicher sah sie sich um, bevor sie endlich in die enge Gasse trat. Auch hier ergriff die Dunkelheit bereits von jedem Winkel Besitz. Nur der sanfte Lichtschein aus den Fenstern der Wohnungen und der Geschäfte beleuchtete unzureichend den festgetretenen, nur gelegentlich gepflasterten Boden. Die Welt zwischen den heruntergekommenen Hausfassaden bestand nur noch aus grauen und schwarzen Schatten.
Froh darüber, dass sie sich auf dem Hinweg alles gut eingeprägt hatte, wandte Demy sich zielsicher nach rechts. Sie wechselte von einer Gasse in die nächste, fortwährend auf der Suche nach einem Ladenschild oder einer Eigenheit an den grauen Hauswänden, die ihr bestätigten, dass sie noch auf dem richtigen Weg war. Dabei schienen
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