Himmel ueber fremdem Land
paar Haselnusssträuchern hindurchdrückte. Eine Amsel floh aufgebracht zeternd.
Das Mädchen lief auf dem schmalen Pfad zwischen den Büschen und der Grundstücksmauer entlang bis zu der Stelle, an der ihr ein paar aus der Mauer gebrochene Steine die Möglichkeit boten, hinaufzuklettern und auf der anderen Seite auf einen schmalen Wiesenstreifen hinunterzuspringen.
Auch hier gewährten einige Büsche ihr einen perfekten Schutz vor den Blicken der Passanten. Diesmal war sie bei Weitem nicht mehr so aufgeregt wie noch vor einer Woche, als sie das erste Mal diesen Weg benutzt hatte, um ungesehen das Grundstück zu verlassen. Zufrieden strich sie ihr einfaches Kostüm glatt und eilte am Schloss Charlottenburg vorbei zu ihrem Treffpunkt am Teich.
Lieselotte saß bereits neben der Fußgängerbrücke im Gras und starrte mit düsterer Miene vor sich hin. Der Fluss plätscherte nach den Regenfällen der vergangenen Tage nahezu wild durch sein Bett, während das nach dem Winter noch braune Schilf sanft vor und zurück schwankte. Ringsum blühten die Bäume und Büsche in herrlichem Weiß, Gelb und Rosa und verströmten einen angenehmen Duft.
Von den Kindern war keines zu sehen, was Demy erstaunte. Mit großen Schritten eilte sie zu ihrer Freundin, die ihr heute nicht mehr als ein gequältes Lächeln zur Begrüßung schenkte.
»Wo sind denn deine Brüder und die Mädchen?« Atemlos ließ sich Demy neben der Freundin ins Gras fallen.
»Die Schule hat wieder begonnen. Willi und Peter haben Unterricht.«
Fragend hob Demy die Augenbrauen. Auch Lieselotte hatte sich auf den Schulbeginn gefreut; sie wollte ihren Horizont erweitern und unabhängig werden.
Nun schlug Lieselotte aufgebracht mit den Fäusten auf das sorgsam gekürzte Gras der Parkanlage ein. »Ich darf nicht auf das Gymnasium gehen. Dort unterrichten sie nur die Elite. Mir fehlt es an Grundwissen und an den finanziellen Mitteln.« Lieselottes Stimme klang mühsam beherrscht, doch der in ihre Augen tretende Glanz verriet, wie nahe sie den Tränen war.
»Die Mittelschule …?«
Lieselotte unterbrach sie sofort. »Das können wir uns auch nicht leisten. Außerdem wird in den Landschulen, wie ich sie besucht habe, ausschließlich Religion, Lesen, Rechnen und Geschichte unterrichtet, wobei unser Geschichtsunterricht sich im Grunde bloß um Bismarck drehte und uns die Liebe zum preußischen Staat und zum Soldatentum eingetrichtert wurde. Ein Witz, vor allem für uns Mädchen.«
Demy sah die Freundin mitfühlend an und diese redete weiter: »Hier in der Stadt vermitteln die Lehrer Grundlagen der Naturwissenschaften, Zeichnen und mehr. Ich habe davon keine Ahnung und würde vermutlich selbst auf der Volksschule nicht mithalten können. Aber für die bin ich ohnehin zu alt.«
Lieselotte verstummte heftig atmend, und Demy schwieg verwirrt. Ihre Freundin war so anders als die jungen Frauen, die sie kannte. Sie hatte einen unbändigen Lernwillen in sich, wollte Wissen ansammeln und im Leben vorankommen, dabei aber keinesfalls eine Ehe eingehen, um den Rest ihres Lebens Hausfrau und Mutter zu sein. Es war einfach nicht fair, dass ausgerechnet ihr eine gute Schulbildung verwehrt blieb, während andere Mädchen, deren vorrangiges Ziel es war, baldmöglichst einen angesehenen, reichen Ehemann zu heiraten, sich durch den Unterricht quälten.
Demys Schulausbildung war abgebrochen worden, als Tilla darauf bestanden hatte, sie mit nach Berlin zu nehmen. Inzwischen erhielt sie bei Henriette und den von ihr engagierten Lehrern einen hochqualifizierten Unterricht, der ihr sehr viel Freude bereitete. Dennoch war ihr Lebensweg durch Tillas egoistische Handlungsweise im Prinzip vorgezeichnet, denn sie würde wohl zeitlebens Tillas Anhängsel bleiben, es sei denn, sie fand einen Ehemann und bekam eigene Kinder.
Demy zwang sich in die Gegenwart zurück. Ein filigraner Zitronenfalter flatterte um ihre ausgestreckten Beine. Im Teich schnatterten ein paar Enten aufgeregt mit den Flügeln schlagend, da sich ihnen das Schoßhündchen einer im Park flanierenden Dame näherte.
»Vielleicht kannst du mit mir gemeinsam meinen Unterricht besuchen«, murmelte sie nachdenklich.
Ihre Freundin lachte hell auf. »Du träumst wohl! Unmöglich kann ich das Haus betreten, in dem du für eine gnädige Frau arbeitest, und dort deinem Unterricht beiwohnen. Zumal es schon erstaunlich genug ist, dass du überhaupt Unterricht erhältst, denn diesen Leuten ist es doch viel lieber, wenn wir einfachen Leute
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