Himmel ueber fremdem Land
– und das, obwohl wir keine reine Monarchie mehr sind. Vielen Menschen im Kaiserreich geht es erschreckend schlecht. Gleichzeitig haben sie aber immerzu euren Prunk und euren Wohlstand vor Augen. Die Menschen, selbst die Frauen der Arbeiterklasse, sind mündiger, offener, mutiger als noch vor zehn Jahren. Sie wollen ihr Leben selbst bestimmen, fordern Gerechtigkeit und Gleichheit. Der Kaiser kommt durch die Eulenburg-Affäre 13 und die damit verbundenen Vorwürfe, von einer Kamarilla aus Homosexuellen umgeben zu sein, derzeit ohnehin nicht gut weg. Das ändert sich auch nicht, wenn sie Maximilian Harden mit einem Urteil wegen übler Nachrede wegsperren.« Philippe warf dem schweigsamen Hannes einen bedeutungsvollen Blick zu. »Und was die Krisen außerhalb des Kaiserreichs betrifft, Hannes, wirf mal einen Blick hinüber nach Frankreich, nach England oder nach Russland. Deutschland ist eine Großmacht geworden! Sowohl was den Maschinenbau als auch die Entwicklung in der Chemie angeht. England fühlt sich aufgrund der zunehmenden deutschen Präsenz auf den Meeren in seiner Führungsrolle als Seemacht bedroht. Der Reichstag hat erst letztens ein neues Flottengesetz angenommen. Bis 1911 sollen vier statt zwei Schlachtschiffe nach dem englischen Vorbild gebaut werden. Wir haben wild wuchernde Bündnisse hin und her, unter anderem auch mit den Habsburgern, und die provozieren ununterbrochen Unruhen auf dem Balkan, ohne ihre militärischen Ressourcen auszuweiten, ihre Militärstrukturen zu erneuern oder beim Wettlauf um die modernen Techniken mithalten zu können. Kaiser Wilhelm trifft sich in diesen Tagen mit dem italienischen König Viktor Emanuel III., um sich der Bündnistreue des Dreibund-Partners zu versichern. Und vielleicht käme dem russischen Zaren ein Krieg gerade recht, könnte er dadurch doch den im Untergrund arbeitenden Revolutionären die Suppe versalzen, weil sein unzufriedenes Volk auf Kriegsschauplätzen beschäftigt ist.«
»Du übersiehst bei alledem aber eines«, ergriff Hannes das Wort. »Die deutschen, britischen und russischen Herrscherhäuser sind allesamt eng miteinander verwandt.«
»Du meinst, wir könnten getrost mit Frankreich einen Krieg anfangen, ohne mit der Intervention der Briten oder der Russen rechnen zu müssen?«
»Sollten sie denn Interesse daran zeigen, ihren Blutsverwandten in den Rücken zu fallen?«
»Gab es in der Geschichte nicht genug Brudermorde, nicht ausreichend Kriege naher Verwandter gegeneinander? Und nicht immer gibt es eine Elisabeth von Portugal, die unbewaffnet zwischen die Armeen ihres Mannes König Dionysius von Portugal und ihres Sohnes Alfons IV. reitet, um eine Schlacht zwischen Vater und Sohn zu verhindern.«
»Und wenn schon. Wenn wir so eine Großmacht sind, wie du sagst, was sollte uns dann im Kriegsfalle passieren?«
»Du besitzt mittlerweile dieselbe Überheblichkeit und Arroganz wie deine sonstige Sippschaft.«
»Zu der du übrigens auch gehörst, Philippe Meindorff .«
»Ich bin doch nur das schwarze Schaf!« Philippe grinste schief, was Hannes veranlasste, ihm kameradschaftlich auf die Schulter zu klopfen.
»Genau, und deshalb darfst du auch unken und uns später die Schuld in die Schuhe schieben, sollte es in naher Zukunft ein paar Scharmützel zwischen der deutschen kaiserlichen Armee und ein paar Franzosen, Briten oder Russen geben.«
»Ein oder wäre noch überschaubar, ein und , was ich aufgrund der vielen Bündnisse eher befürchte, könnte einer Katastrophe gleichkommen.«
»Du siehst zu schwarz. Gehe zurück in das heiße Afrika, hab ein bisschen Spaß dort, und du wirst sehen, deine Sorgen lösen sich in Luft auf.«
Philippe schwieg betroffen, glaubte er doch eine Spur von Enttäuschung in Hannes’ Stimme wahrzunehmen. Es war demnach so, wie er vermutete: Die Jugend dieses Landes fühlte sich bereit für einen Krieg. Doch er hatte in Afrika in dessen hässliches Gesicht schauen müssen und war keineswegs auf eine Wiederholung der Erlebnisse aus …
***
Ein lauer Wind brachte die Äste der Parkbäume in Bewegung und das Rascheln ihrer noch jungen Blätter klang wie eine geflüsterte Warnung, vorsichtig zu sein. Demy warf einen prüfenden Blick in den Garten und einen zweiten in Richtung der Fenster des herrschaftlichen Stadthauses. Die Sonne spiegelte sich in ihnen, sodass es ihr unmöglich war zu erkennen, ob jemand hinter den Glasscheiben stand und sie beobachtete. Einen Augenblick zögerte sie noch, ehe sie sich zwischen ein
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