Himmel ueber fremdem Land
dumm und einfältig bleiben. Dadurch sind wir viel leichter zu beherrschen.«
»Nein, diese Familie ist nicht so schrecklich!« Missbilligend runzelte Demy die Stirn, denn immerhin sprach Lieselotte von ihrer Schwester, was sie ihr aber nicht verraten durfte.
Die Ältere ergriff ihre Hand und drückte sie. »Demy, ich weiß, du meinst es gut. Dafür danke ich dir. Vermutlich suchen meine Eltern einen Arbeitsplatz in einer der Fabriken für mich. Dann arbeite ich zwölf Stunden oder mehr am Tag und habe gar keine Zeit für Unterricht.«
»Und wenn ich dich unterrichte? Abends oder an den Sonntagen? Ich könnte dir einfach alles beibringen, was ich lerne, und auch deinen Brüdern zusätzlichen Unterricht erteilen. Vielleicht gelingt es ihnen dann später, eine höhere Schule zu besuchen?«
»Du willst mich unterrichten? Du bist drei Jahre jünger als ich!« Lieselotte sah sie beinahe vorwurfsvoll an, was Demy leicht mit den Schultern zucken ließ. Mit Sicherheit war ihre Schulbildung besser als die eines ehemaligen Bauernmädchens, zumal sie zurzeit Unterricht auf ausgesprochen hohem Niveau erhielt. Wenn das Altersproblem Lieselotte daran hinderte, auf ihr Angebot einzugehen, war es mit ihrem Lerneifer wohl doch nicht so weit her.
»Ich überlege es mir. Aber das Angebot für Willi und Peter finde ich gut. Sie hätten am Spätnachmittag Zeit. Nur bezahlen kann meine Familie dir den Unterricht leider nicht.«
»Davon war auch nie die Rede. Dann ist das also abgemacht. Nur, wo treffen wir uns?« Demy war nicht erpicht darauf, tagtäglich durch das Scheunenviertel zu spazieren, und vor einer erneuten Begegnung mit dem Vater der Kinder fürchtete sie sich regelrecht.
»Jetzt im Sommer kommen die Jungs einfach hierher«, überlegte Lieselotte laut. »Falls es regnet, reicht der überdachte Eingangsbereich des Mausoleums als Schutz. Für die kälteren Tage finde ich noch einen passenden Raum.«
»Die Kinder sollen allein bis zum Charlottenburger Schlosspark gehen?«
Das ältere Mädchen lachte über Demys Entsetzen. »Sie sind häufig in der Stadt unterwegs. Das sind keine behüteten und bewachten kleinen Adeligen. Was sollte ihnen denn passieren? Die einzige Gefahr sind die rücksichtslos fahrenden Reichen in ihren Automobilen und die Polizisten, die Kinder in alter Kleidung von vornherein für Diebe halten.«
Unangenehm berührt schwieg Demy. Vermutlich hatte ihre Freundin recht. Menschen in ärmlicher Garderobe wurden von den Polizisten besonders im Auge behalten, die Bessersituierten der Berliner Bevölkerung nahmen sie dagegen gar nicht wahr. Dies war einer der Gründe, weshalb Demy neuerdings ihre schicken Ensembles mied, dem Unwillen des alten Meindorff zum Trotz. In ihrem einfachen Rock und der unauffälligen Bluse fühlte sie sich vor einer Entdeckung durch etwaige Geschäftsfreunde der Meindorffs sicher. Obendrein begegnete sie dem Hausherrn so selten, dass er ihre Weigerung, sich dem Ansehen des Hauses angemessen zu kleiden, noch gar nicht bemerkt hatte.
»Was ist mit Helene? Müssen deine Brüder nachmittags nicht auf sie aufpassen, vor allem, wenn du arbeiten gehst und keine Zeit mehr für sie hast? Sie ist zwar erst drei Jahre alt, aber ich entwerfe gern für sie Bilder zum Ausmalen oder bringe ihr Reime und Spiele bei, oder …«
»Helene ist krank.« Erneut verzog Lieselotte ihren Mund zu einem verkniffenen, abwärtsführenden Bogen.
»Sie kann die Zwillinge begleiten, sobald sie genesen ist«, schlug Demy enthusiastisch vor. Bereits jetzt freute sie sich darauf, Lieselottes Geschwister zu unterrichten. Damit würde ihr Alltag einen Sinn erhalten, und sie konnte weitergeben, was sie selbst gelernt hatte.
» Falls sie wieder gesund wird.«
Demy presste erschrocken die Lippen aufeinander und musterte ihr Gegenüber mit nachdenklichem Blick. Ging es dem kleinen Mädchen so schlecht? Die Familie Scheffler hatte doch sicher eine der hier im Deutschen Reich von Bismarck initiierten Krankenversicherungen, dank derer sie das Kind von einem Arzt behandeln lassen konnten.
»Was fehlt ihr denn?«, hakte sie mit belegter Stimme nach.
Nach einem schlichten Schulterzucken drehte Lieselotte den Kopf fort, was Demy noch mehr beunruhigte. Stand es um Helene so schlecht, dass ihre Freundin die Tränen, die ihr in den Augen brannten, vor ihr versteckte?
»Sie fiebert und hustet.«
»Dein Vater kümmert sich um sie?«
»Er ist auf Arbeitssuche.«
»Aber …« Erschrocken rümpfte Demy die Nase. »Wer ist im
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