Himmel ueber fremdem Land
verlieben …«
Demy senkte den Blick auf ihre Hände, die nervös über ihre Taillenschärpe strichen. »Mir kam bis jetzt gar nicht der Gedanke, dass es möglich sein könnte, das Kind zu besuchen. Und tatsächlich entzieht es sich meinem Wissen, ob es schicklich ist, diesen Einfall in die Tat umzusetzen.« Die Falten auf Demys Nase zeigten deutlich ihre Unsicherheit.
»Befragen Sie Frau Cronberg dazu«, schlug Margarete eifrig vor. »Und außerdem: Was wären Sie für ein Mensch, wenn Ihnen das Schicksal Ihres Findlings gleichgültig wäre!«
»Ach, die uns aufdiktierte Schicklichkeit.« Lina winkte mit einer Handbewegung ab. »Sie wird überbewertet! Sollten wir nicht das tun, wozu unser Herz uns drängt, das, was uns Freude und Glück bereitet?«
»Da mögen Sie recht haben«, murmelte Demy und hob den Kopf. Ihre Augen funkelten, als sie sagte: »Ich erkundige mich nach der Adresse des Heimes und besuche den kleinen Nathanael. Möglicherweise kann ich ihn ja auf seinem Lebensweg begleiten, ihn fördern, mit ihm die Stadt entdecken und Ausritte unternehmen und-« Sie wurde in ihrer Aufzählung spontaner Unternehmungen von einer fröhlich lachenden Lina unterbrochen.
»Entschuldigen Sie bitte, ich lache Sie nicht aus, ich finde nur diesen Gedanken so herrlich. Der Junge ist gerade ein paar Wochen alt und Sie wollen mit ihm bereits zu Pferde über die Wiesen preschen? Sie sind eine richtige kleine Abenteurerin, nicht wahr? Kommen Sie, lassen Sie uns einen Termin finden, an dem ich Sie in das Heim begleiten kann. Das wird bestimmt aufregend!«
Demy starrte Lina entgeistert an. Sie hatte die junge Frau bis vor wenigen Augenblicken für eine wohlerzogene Modepuppe gehalten, und nun entpuppte sie sich als ein tatendurstiges Mädchen.
Von Linas Begeisterung angesteckt klatschte Margarete aufgeregt in die Hände. »Lina, was denkst du? Wir beiden könnten uns ebenfalls einiger dieser armen Geschöpfe annehmen. Die Waisenheime sind doch sicher dankbar für jede Unterstützung!« Sie schaute fragend von Lina zu Demy. Diese war ganz aufgewühlt von der Aussicht, ihren kleinen Findling wiederzusehen und dabei zwei respektable Damen aus dem Großbürgertum an ihrer Seite zu wissen, was ihrem Vorhaben einen gediegenen Anstrich verleihen würde.
»Meine Zeit, ich fühle mich wie eine der Figuren von Mark Twain. Oder auf Abenteuerreise mit Karl May. Haben Sie schon Bücher von ihnen gelesen, Fräulein van Campen?«
Demy bejahte. Sie mochte die Geschichten um Tom Sawyer und Huckleberry Finn sehr. Auch die Reiserzählungen Karl Mays begeisterten sie, wenngleich der Schriftsteller in letzter Zeit recht eigentümliche Texte verfasste.
»Wir könnten versuchen, die Mutter des Kleinen zu finden«, spann Lina unternehmungslustig den Faden weiter.
»Wie Sherlock Holmes!«, jauchzte Margarete und brachte mit ihrer Begeisterung Lina zum Lachen.
Demy war sich allerdings nicht sicher, ob sie die Idee gutheißen sollte. Für sie war es immer noch ein Rätsel, dass eine Mutter ihr Kind einfach bei einer Fremden zurückließ. Sicher hatte sie gute Gründe für ihr Handeln gehabt, die aber vermutlich noch nicht ausgeräumt waren. Ihr nachdenkliches Schweigen hielt die beiden anderen Mädchen jedoch nicht davon ab, weitere Pläne für ihr abenteuerliches Vorhaben zu spinnen.
»Das hört sich lustig an. Fräulein van Campen, ich bin so froh, dass Sie zu uns gestoßen sind! Kommen Sie bitte nächste Woche wieder! Dann überlegen wir weiter, wie wir die armen Kinder in dem Heim unterstützen können.« Die Gastgeberin griff gleichzeitig nach Linas und nach Demys Hand, als wolle sie mit ihnen einen Bund schließen.
Demy überlegte, was aus dieser eigentümlichen Begegnung dreier so unterschiedlicher Mädchen wohl entstehen mochte, doch in diesem Moment erschien Henriette wieder im Salon, und sie verabschiedeten sich von ihrer Gastgeberin.
***
Wenig später schlenderten Demy und Henriette in Richtung Schlossstraße. Sie sprachen über den Lesenachmittag, wobei Henriette nicht an Lob für Demys Betragen sparte, was diese veranlasste, unter einem Anflug eines schlechten Gewissens das Gesicht zu verziehen. Wie eine wohlerzogene junge Dame hatte sie sich die letzte halbe Stunde über nicht verhalten. Vielmehr wie das abenteuerlustige Mädchen, das sie eigentlich war. Und Margarete? Ob sie sich jetzt, wieder allein zu Hause, ihrer Begeisterung schämte? Ohne Zweifel wusste die 17-Jährige sich doch im Grunde zu benehmen.
Lag es dann an
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