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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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war ein Verdacht aufgekommen. Von einem Tag auf den anderen. Ich bekam den Befehl, unmittelbar nach Prag zurückzukehren.«
    »Du hast es schwer gehabt?«
    »Ja.«
    Ich wartete.
    »Sie haben mich zwei Monate lang verhört. Mehrere Male in der Woche wurde ich ins Ministerium bestellt. Einer meiner Kameraden muss versagt haben, aber zum Schluss haben sie mich gehen lassen. Ich hatte angefangen, wieder an meiner alten Schule zu unterrichten, und ich … ich habe nicht geglaubt, jemals wieder die Möglichkeit zur Ausreise zu bekommen. Aber plötzlich, eines Tages vor einem Monat, da bekam ich die Nachricht, dass meine Dienste in London benötigt würden. Letzte Woche bin ich hergekommen.«
    »Deine Dienste?«, fragte ich.
    Ein Moment des Zögerns, bevor sie erklärte. »Ich übersetze, das ist mein Job. Englisch, Deutsch, Französisch. Andere slawische Sprachen natürlich auch. Ich habe so schon in Prag gearbeitet, ja, es war eine Überraschung, dass ich die Chance bekam, noch einmal hierherzukommen, das war es wirklich. Meine übrigen Aufgaben sind natürlich nicht offiziell.«
    »Deine übrigen Aufgaben?«
    »Ja.«
    Wir zündeten uns eine Zigarette an. Ich wartete, dass sie weitersprechen würde, mich in etwas mehr einweihen würde als nur durch diese wortlosen Bewegungen auf der Oberfläche.
    »Es ist nicht so einfach«, sagte sie. »Ich kann ihre wirklichen Absichten nicht beurteilen, aber es ist … ja, es ist ziemlich wahrscheinlich, dass sie mich hierher geschickt haben, um mich zu entlarven. Damit ich einen Fehler mache. Und es ist wahrscheinlich schon ein Fehler, dass ich hier mit dir sitze, aber das ist mir auch egal.«
    »Ich bin froh, dass wir hier sitzen.«
    Sie seufzte und betrachtete eine Weile ihre gefalteten Hände. Dann hob sie den Blick und schaute mich prüfend an. Ich weiß nicht, was sie abwog, mich oder die Worte, die sie sagen wollte. Sie räusperte sich und begann.
    »Man kommt an eine Grenze, das ist unvermeidbar.«
    Einen Augenblick Pause. Ich sagte nichts.
    »An einen Punkt, an dem man sich entscheiden muss, das ist es, was ich meine. Wem man vertrauen kann, man kann auf lange Sicht nicht allen Menschen misstrauen. Sonst kommt man nie weiter, und vielleicht ist es genau das, ja, das ist wirklich meine Hoffnung, dass genau dieser Umstand dazu führen wird, dass unser System zusammenbricht. Es gehen hundert Nein auf jedes einzelne Ja. Eines Tages funktioniert es einfach nicht mehr. Verstehst du, wovon ich rede?«
    »Denunziation?«
    »Unter anderem. Misstrauen in erster Linie. Wenn du alles bezweifelst, wenn du hinter jedem möglichen Freund einen Feind entdeckst, wenn du dich nicht mehr traust, deinem Nächsten zu vertrauen, deiner eigenen Familie, deinen eigenen Gedanken … ich glaube, das kannst du eine Zeitlang so halten, aber du spürst gar nicht, wie deine Gedanken währenddessen davon durchtränkt werden, wie es alles überzieht. Wir haben es in unserem Blutkreislauf … das macht uns … ja, das macht uns einfach unmenschlich.«
    Ich dachte kurz über den Begriff Menschlichkeit nach, dass sie das menschlichste Wesen war, das ich jemals getroffen hatte – und dass es das Einzige war, worum es immer ging, ganz gleich, welche anderen Ziele und Mittel angesagt waren. Letztendlich. Das erste Opfer des Krieges mag die Wahrheit sein, doch sein größtes ist das Vertrauen. Das Vertrauen, dass der Fremde nicht gezwungenermaßen dein Feind ist. Mit allem, was das mit sich zieht. Und natürlich sind beide Nachbarn, die Wahrheit und das Vertrauen.
    »Ich habe beschlossen, dich einzuweihen«, sagte sie und lächelte ein neues, tastendes Lächeln. »Ich habe es gestern Abend beschlossen, nachdem wir zusammengestoßen sind, aber ich weiß nicht, ob es der richtige Entschluss ist. Doch das ist mir jetzt gleich, irgendwann muss man eine Entscheidung treffen. Arbeitest du in diesem Buchladen?«
    Ich nickte. »Seit April.«
    »Und deine Zeitschrift?«
    »Damit habe ich aufgehört.«
    »Ich verstehe.«
    Ein paar Sekunden lang blieb sie schweigend sitzen und bereitete vor, was sie sagen wollte.
    »Auf jeden Fall ist meine Situation hier in London prekärer als früher. In gewisser Weise muss ich meine alten Aktivitäten wiederaufnehmen, aber ich kann mir keinen Fehltritt leisten. Ich wünschte, es hätte sich nicht so entwickelt, aber es hat keinen Sinn, hinterher klüger sein zu wollen. Es gibt ja auch nie irgendwelche Garantien, das zu glauben wäre naiv. Alles hat sich nach dem Einmarsch der Sowjetunion

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