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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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Serviette ein Stück zu mir, stopfte den Katalog in eine rote Schultertasche, stand auf und verließ den Tisch. Ich wartete fünf Minuten, in denen ich meinen Kaffee trank, stopfte dann die vollgekritzelte Serviette in meine Zeitung und verließ auch den Raum. In einer Kabine in der Herrentoilette konnte ich endlich lesen:
    Entschuldige, was im Februar passiert ist. Wenn du immer noch willst, können wir uns heute Abend in Covent Garden treffen. Um halb acht vor der Oper, um acht beginnt eine Vorstellung, es werden viele Leute dort sein. Ich möchte dich wirklich wiedersehen. Du fehlst mir, es tut mir leid. C
    Ich las den Text mehrere Male, dann zerriss ich die Serviette und spülte die Fetzen in der Toilette hinunter. Verließ das Museum und wanderte den ganzen Weg zurück nach Paddington.
    Sie trug dasselbe Kopftuch und dieselbe Sonnenbrille, und es waren wirklich viele Leute vor der Oper versammelt. Wortlos hakte sie sich bei mir unter und führte mich Richtung Osten die Long Acre, die Drury Lane entlang und nach links in die Kemble Street. Schloss eine Tür in einem ziemlich neu gebauten Mietshaus auf, nachdem sie vorher einen Blick auf beide Seiten der Straße geworfen hatte; das einzige Lebewesen, das ich in der Nähe entdecken konnte, war eine junge rothaarige Frau, die ihren Schäferhund Gassi führte. Wir gingen die Treppen bis zur obersten Etage hinauf, vier, wenn ich mich recht erinnere, vielleicht waren es auch nur drei; sie schloss wieder eine Tür auf, und wir traten in eine kleine dunkle Wohnung mit einem Zimmer und Küche. Sie war nur spärlich möbliert, ein Bett und ein Schreibtisch im Zimmer, ein Tisch und drei Stühle in der Küche. Kahle Wände, kein Fernseher, keine persönlichen Dinge. Doch dichte Gardinen vor dem Fenster, sowohl im Zimmer als auch in der Küche. Ich konnte sehen, dass hier niemand wirklich wohnte, aber das war ich ja schon von früheren Treffen gewohnt. Falls ein Name an der Tür stand, hatte ich ihn jedenfalls nicht bemerkt.
    Wir setzten uns an den Küchentisch. Sie holte eine Flasche Wein und zwei einfache Trinkgläser aus einem Schrank. Zündete eine Kerze an. Es war wie immer und doch wieder nicht. Ich konnte ihr ansehen, dass etwas passiert war. Es war so viel Zeit vergangen, ja, mehr als acht Monate, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Etwas in ihren Bewegungen, in ihrer Ausstrahlung hatte sich verändert. Als wäre sie gestutzt worden, ja, genau dieses Wort kam mir in den Sinn. Ein Vogel, der gegen eine Glaswand geflogen war, oder ein Kind, das unnötig hart bestraft worden war. Es gab Andeutungen dunkler Halbmonde unter ihren Augen, und auf den Schultern und dem Rücken ruhte eine Zerbrechlichkeit, wie ich sie bei unseren früheren Treffen nicht bemerkt hatte. Wir tranken einen vorsichtigen Schluck Wein, und ich bat sie zu erzählen.
    »Was ist passiert, Carla?«
    »Viel«, sagte sie zögernd. »Es ist viel passiert.«
    Es war auch etwas mit ihrer Stimme. Als ob sie durch Unsicherheit einen Riss bekommen hätte, weil sie Dinge hatte erleben müssen, die sie am liebsten nicht erlebt hätte. Zum ersten Mal bekam ich den Eindruck, der Stärkere von uns beiden zu sein. Dass sie meine Hilfe brauchte, nicht nur als Vermittler und Überbringer bei dem einen oder anderen lichtscheuen Auftrag, sondern auch auf persönlicher Ebene. Es gibt immer eine persönliche Ebene.
    Zumindest gelang es mir, dieses Bild zu konstruieren, es entfachte eine diffuse, männliche Hoffnung in mir, kurz bevor sie anfing zu berichten. Doch Stärke und Schwäche, das sind schwierige Größen, das habe ich gelernt, bereits damals lernte ich es, sie tauschen gern ihre Plätze, wenn sie ans Licht kommen, und Carlas offensichtliche Verletzlichkeit an diesem Abend in der Kemble Street enthielt vermutlich, auf einer tieferen Ebene, ihr Gegenteil. Eine fundamentale Verankerung, welcher Art auch immer. Ich möchte sie gern Menschlichkeit nennen, auch wenn ich selbst nicht so recht sagen kann, was dieser Begriff eigentlich beinhaltet. Sie war die erste Frau gewesen, war sie jetzt der erste Mensch? Nein, das klingt wie ein doch allzu sehr im Nachhinein konstruierter Gedanke.
    »Ich bin zurückgefahren«, sagte sie.
    »Ich habe vermutet, dass du zurückgefahren bist«, sagte ich.
    »Deshalb bin ich nicht zu unserem Treffen im Februar gekommen. Es tut mir leid, aber es gab keine Möglichkeit, dir das mitzuteilen. Es war ein spontaner Entschluss, ich hatte keine andere Wahl.«
    Ich nickte, wartete ab.
    »Es

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