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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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seinem Zimmer lag und ihr Gespräch noch einmal Wort für Wort, Atemzug für Atemzug durchging, musste er sich eingestehen, wie außerordentlich geschickt das gewesen war. Das war ein Pfeil, der sie direkt ins Herz getroffen hatte. Hübsche Mädchen, von denen gab es genug, aber eine interessante Frau zu sein, wenn man erst neunzehn Jahre alt ist, das hat einen ganz anderen Wert.
    »Wollen wir uns nicht für eine Weile aufs Bett legen?«, fragte sie.

35

Das gelbe Notizbuch
    D ie zweihundert Tage. Oder zweihundertvierundfünfzig, je nachdem, wie man zählte. Aber warum mit Ziffern jonglieren, diese mentale Onanie des Einsamen?
    Es war spätnachmittags, nur noch eine Stunde bis zum Feierabend, ich war dabei, Neuzugänge ins Klassikerregal von Penguin zu sortieren. Als ich kurz den Blick hob, glaubte ich zuerst, dass es eine Fantasie war, die mir vor Augen erschien, und nicht ein realer Sinneseindruck. Nur das Erinnerungsbild eines Tagtraums oder so etwas in der Art. Ich holte erneut Bücher aus dem Karton, der auf dem Boden stand, Stevenson und Thackeray und Trollope, und es dauerte einige Momente, bis meine Synapsen einander zu fassen bekamen und mitteilten, dass es sich um deutlich mehr als eine Fantasie oder einen Traum handelte: Es war sie.
    Doch sie hatte mich nicht gesehen, war auf dem Weg um eine Ecke, in die Abteilung für Politik und Gesellschaft, und ich konnte mich nicht beherrschen, ich musste ihr hinterherrufen. Sie blieb augenblicklich stehen und drehte sich um. Begriff zunächst nicht, wer da gerufen hatte, sah es aber, als ich eine Hand hob. Es war eine unglaublich alberne Geste, trotz der Umstände konnte ich das selbst registrieren, und das tat sie wahrscheinlich auch, denn ein kurzes Lächeln huschte über ihr verwundertes Gesicht. Ich kletterte über die Kartons, umrundete einen Pfeiler und gelangte zu ihr. Nach einer Sekunde Zögern nahm ich sie in die Arme. Sie legte mir ihren Kopf auf die Brust, es schien, als würde sie sich überhaupt nicht um irgendwelche Vorsichtsregeln kümmern, und so blieben wir für eine Weile stehen. Atmeten drei oder vier Atemzüge im Gleichtakt, und zweihundert – oder zweihundertvierundfünfzig – Tage schmolzen in einem Augenblick wie eine Schneeflocke im Wasser.
    Dann schob sie mich von sich und schaute sich unruhig im Laden um.
    »Ich kann dich nicht hier und jetzt treffen.«
    »Dann sag wann und wo.«
    Sie überlegte einige Sekunden lang. »Die Cafeteria im British Museum?«
    Ich nickte.
    »Morgen Vormittag um elf Uhr. Ich sitze an einem Tisch, du hast eine Tasse Kaffee gekauft und fragst, ob der Platz noch frei ist.«
    »All right.«
    »Wenn ich nicht dort sitze, versuche es am nächsten Tag.«
    »Zur gleichen Zeit?«
    »Zur gleichen Zeit.«
    Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und eilte hinaus auf die Charing Cross Road. Das Blut brauste in meinen Adern.
    In der folgenden Nacht konnte ich nicht schlafen, natürlich nicht. Ich lag traumwandlerisch wach da und lauschte meinen Nachbarn, den Tauben und den Fledermäusen und ihrem leisen Treiben auf der anderen Seite der Wand. Kämpfte mit Horden widerspenstiger Gedanken und Befürchtungen. Um sieben Uhr stand ich auf, rief Miss Hampton von der Personalabteilung an und erklärte, dass mich eine leichte Lebensmittelvergiftung ereilt habe und ich für ein paar Tage fehlen würde.
    Ich ging den ganzen Weg nach Bloomsbury zu Fuß, es war ein schöner Spätsommertag, und ich war eine Stunde zu früh vor dem Museum. Eine halbe Stunde lang spazierte ich in den anliegenden Straßen herum, dann eine weitere halbe Stunde zwischen den Mumien in den ägyptischen Sälen, bevor ich mich endlich in die Cafeteria aufmachen durfte. Zu diesem Zeitpunkt war es mir gelungen, mich selbst davon zu überzeugen, dass sie garantiert nicht dort sein würde, ich war bereits damit beschäftigt, mein Pech wie ein Mann zu tragen – wieder ein Misserfolg, doch was spielte ein Tag mehr oder weniger für eine Rolle, wenn man es recht betrachtete? Nach all diesem Warten, wenn nicht heute, dann morgen, das hatte sie gesagt.
    Doch sie saß tatsächlich da, an einem Tisch ganz hinten in einer Ecke. Sie blätterte in irgendeinem Katalog, trug ein Kopftuch und eine dunkle Brille, aber sie war es. Ich bestellte meinen Kaffee und trat an ihren Tisch.
    »Frei hier?«
    »Ja, sicher.«
    »Danke schön.«
    »Bitte.«
    Ich setzte mich, wusste nicht, wie lange wir weiterspielen sollten, aber darüber musste ich gar nicht länger nachdenken. Sie schob ihre

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