Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
Vom Netzwerk:
doch London war das Mekka Europas, seit der Carnaby Street, seit Twiggy, Top of the Pops, Flower Power und Sergeant Pepper, und keiner in der Gruppe war besonders scharf darauf, Französisch sprechen zu müssen.
    Sie waren zu acht, fünf junge Männer, drei junge Frauen. Lars Gustav war einer der Männer, Carla Carlgren eine der Frauen. Es war Stig Lennon, der die Regeln aufstellte, so war es immer. Eigentlich hieß er Stig Lennartsson, aber wen scherte das? Zug bis Göteborg, Fähre Saga vom Skandiakai nach Immingham. Dann Zug oder per Anhalter nach London, und dann würde man sehen. Abreise am 20. Juli, jeder musste sich selbst darum kümmern, bis dahin genug gejobbt zu haben, um seine Reisekasse zu füllen.
    Lars Gustav hatte bereits sechs Wochen Knochenarbeit bei Nilssons Beton AG ausgemacht. Dort hatte er schon im letzten Sommer gearbeitet, es war schwer, manchmal übernahm er eine doppelte Schicht, aber es war gut bezahlt. Zwei der übrigen potentiellen Mitreisenden waren Leo Wermelin und Birgitta Lunner, sie hatte eine Woche nach der Prüfung eine Abtreibung vornehmen lassen, worüber aber nur ein äußerst kleiner Kreis Bescheid wusste. Über das und was dem zuvorgegangen war. Jedenfalls gehörte Lars Gustav auch zu dem Kreis, und er begriff, dass er plötzlich, nach Jahren des Schweigens, der Einsamkeit und des Insichgekehrtseins jemand geworden war, auf den man zählte. Ein Eingeweihter. Schwer zu sagen, wie es dazu gekommen war, aber dass seine Beziehung zu Carla Carlgren eine große Rolle spielte, das konnte sich schon ein Siebenjähriger ausrechnen.
    Wie genau diese Beziehung zustande gekommen war und wie es um sie stand, das war schwerer zu beurteilen. Sie waren kein offizielles Paar, man traf sich fast immer in Grüppchen, aber meistens landeten sie dann miteinander auf Sofas und Decken, und sie hatten Hand in Hand und Hand auf dem Schenkel im Roxy gesessen und Blow up gesehen. Auch eine halbe Stunde auf dem Friedhof von K. geknutscht nach einem Fest in Lennons elternfreiem Haus in der Rosersberggatan. Und dennoch. Wie sollte man es wissen, wenn es doch so vieles Unausgesprochenes gab?
    Er träumte von ihr. Sehnte sich nach ihr, überlegte und onanierte. Die Frau, und besonders Carla Carlgren, war ein geheimnisvolles Wesen, schillernd, aber es würde sich ja alles in ein paar Wochen in London klären. Das musste es. Und man brauchte keine Eile mit den Dingen zu haben, auch das Unausgesprochene hatte seinen Reiz. Und das Warten.
    Warten, sich Dinge einbilden und träumen, während man mit gekrümmtem Rücken herumlief und die neuen Muster für die Armierung bei Nilssons eintrafen und schnelle, konzentrierte Arbeit verlangten. Alles braucht seine Zeit.
    Daheim im Gökvägen ging alles seinen üblichen Lauf. Ansgar war seit einem halben Jahr tot, Tante Ragnhild putzte, wusch und kochte. Und sie nähte; Sven Martins Zimmer war nach und nach in ihr Nähzimmer verwandelt worden, er kam sowieso nicht mehr zu Besuch nach Hause. Im Winter würde er volljährig werden und arbeitete im Schweiße seines Angesichts in der Möbelfabrik der Brüder Hallings außerhalb von Ljungby. Nicht einmal im Sommer machte er sich die Mühe, seiner Heimatstadt einen Besuch abzustatten, das hatte er mitteilen lassen, die Leute brauchten das ganze Jahr über Möbel, und wenn man es zu etwas bringen wollte, dann durfte man nicht auf der faulen Haut liegen. Lars Gustav dachte manchmal, dass er wahrlich nicht mit viel an Familie gesegnet war – mit einem toten Lügner als Vater, einer abgehauenen Mutter in Håverud und einem Bruder in Ljungby –, doch gleichzeitig ahnte er, dass so die neue Zeit wohl aussah. Ein eigenes Zimmer, das reichte, das war die Burg und das Universum des Individuums. Der Familienbegriff, das war ein Überbleibsel, zum Untergang verdammt; der moderne Mensch … das moderne Individuum ging ganz andere Konstellationen ein als die bürgerlichen, unterdrückenden Strukturen, die bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgeherrscht hatten. Darüber hatte er gelesen und sich das gemerkt, denn die letzten Jahre, ungefähr seit er aufs Gymnasium gekommen war, hatte er angefangen, Bücher zu konsumieren. Nicht groß Gesellschaftsanalyse, das war eher Zufall gewesen, sondern vor allem Belletristik. Anfangs überwogen Abenteuerbücher und Krimis: Jack London, Dumas, Riverton und Carter Dickson. Doch mit der Zeit kamen auch solche hinzu, die als etwas substantieller angesehen wurden: Hemingway, Graham Greene

Weitere Kostenlose Bücher