Himmel über London
Schwerpunkt) sowie etwas, das unter dem Begriff »Strategien zur Versorgung der Dritten Welt« lief, und in Erwar tung, dass jemand sich an seiner Kompetenz interessiert zeigen würde, arbeitete er in einer Autowerkstatt in East Village. Dort hatte er bereits während seiner Studienzeit gearbeitet; der Besitzer, ein gewisser Mr. Jan Kopper, war ein alter Freund seines Vaters, geboren in Bratislava, aber mehr als zwanzig Jahre vor dem Fall der Mauer in die USA emigriert. Während des Prager Frühlings 1968, genauer gesagt, Milos hatte als Kind bei jedem kleineren oder größeren Familientreffen ständig über diese Zeit Geschichte gehört.
Was ihn selbst betraf, so hatte Milos die Tschechoslowakei (wie sie von den meisten in seinem Bekanntenkreis immer noch genannt wurde) im Sommer 1990 verlassen, zusammen mit seinen Eltern und seinen beiden deutlich jüngeren Schwestern Marta und Helka – und es war genau jene Familie Kopper, Mr. Jan und Mrs. Priscilla (ehemalige Schönheitskönigin und Cheerleader aus Cleveland im Staate Ohio), die ihnen bei allem geholfen hatten, was in der ersten komplizierten Zeit in der spannendsten und lukrativsten Stadt der Welt vonnöten ist: New York City an der Mündung des Hudsonriver. Es ging ums Wohnen, es ging um Arbeit, es ging um Kontakte, Schulen, Aufenthaltsgenehmigung, erforderliche zinsfreie Kredite, Sozialversicherungsnummer, ja, buchstäblich gesprochen um alles. Und als Herrn Jaroslavs Arztkostenrechnungen immer weiter in die Höhe stiegen, war es auch Mr. Jan Kopper, der die Sache regelte.
Und als er starb, war es Kopper, der wusste, an welches Beerdigungsinstitut man sich wenden sollte und wie man auf die geschickteste Art eine Grabstätte bekam (während Mrs. Priscilla in ihrem Salon an der Atlantic Avenue für die richtigen Beerdigungsfrisuren von Milos’ beiden Schwestern und seiner Mutter sorgte). Die Beisetzung fand auf dem St. Michael’s Friedhof in Queens statt, acht Blocks von der Wohnung der Familie Skrupka entfernt, und als sie überstanden war, gab Milos seinen Versuch zu trauern auf. Helka und Marta hatten während der gesamten Zeremonie ein wahres Meer von Tränen vergossen, seine Mutter hatte leidend und gebrochen ausgesehen, aber er selbst hatte in erster Linie ein großes Loch von Gleichgültigkeit verspürt.
Mein Vater, so hatte er draußen auf dem windigen Friedhof gedacht. Du musst der Ursprung meiner Tage gewesen sein, aber du bist immer wie ein Fremder für mich gewesen. Ein Fremder und ein Quälgeist.
Er wünschte, es wäre nur Einbildung, doch dem war nicht so. Der Unterschied zwischen der Art, wie der Vater sich seinen kleinen Schwestern gegenüber verhalten und wie er versucht hatte, seinen Sohn zu erziehen, war himmelschreiend gewesen. Milos war ein Mann, und er sollte wie ein Mann angefasst werden. Von Anfang an, das war eine Art Credo gewesen; wen man liebt, den züchtigt man. Und wenn man ihn nicht züchtigt, dann stutzt man ihn zumindest zurecht. Die sechs und acht Jahre jüngeren Mädchen waren Puppen, sie waren immer schon Puppen gewesen, dachte Milos, amerikanische, verwöhnte, alberne Barbiepuppen – zumindest von seinem eigenen, erklärtermaßen subjektiven Standpunkt aus gesehen –, doch das war eine Wut, über die er nicht gern sprach und die er nicht loswurde. Schon gar nicht, wenn die Ursache sechs Fuß unter der Erde auf dem St. Michael’s Friedhof lag und es zu spät war, etwas daran zu ändern.
Es gab auch eine Wut, die sich gegen Mr. Jan Kopper richtete, doch die war anders, von eher allgemeiner Art. Und wenn er etwas bei den Tischgesprächen in der Küche in der Burns Street und später in der Roosevelt Avenue gelernt hatte, dann, dass man die Hand nicht beißt, die einen füttert. Das galt in Bratislava, genau wie es in New York City galt.
Gut sieben Jahre später, im Dezember 2009, arbeitete Milos Skrupka immer noch bei Kopper Car Splendid Service and Wash, doch da die Firma gewachsen war und er trotz allem eine solide betriebswirtschaftliche Ausbildung im Gepäck hatte, kümmerte er sich nun um die Bücher. Er saß in einem kleinen Büro über dem ersten KCSSW, in der East 3rd Street, nur fünf Straßen von der Wohnung von 350 Quadratfeet entfernt, in die er vor ein paar Jahren gezogen war, und da er inzwischen vierunddreißig Jahre alt war, hatte er langsam das Gefühl, dass ihm das Leben durch die Finger rann. Seit er geschlechtsreif geworden war, war er mit drei verschiedenen jungen Frauen zusammengewesen, einer
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