Himmel über London
Weißen, einer Gelben und einer Schwarzen, hatte aber nie mit einer von ihnen unter einem Dach gewohnt. Die letzte Affäre, mit Maureen aus Botswana und Brooklyn, hatte ihr Ende im Mai des letzten Jahres gefunden. Er ging mit guten Freunden aus (Zlatan und Phil, beide genauso hoffnungslos alleinstehend wie er selbst, beide Computernerds, was zu werden er selbst zu vermeiden versuchte) und trank sich einmal die Woche um den Verstand. Normalerweise in irgendeiner Bar in Lower East oder East Village. Ging einmal im Monat zum Basketball oder Eishockey in den Madison Square (in derselben Besetzung), guckte durchschnittlich fünfzehn DVD-Filme die Woche, und nachdem das lockere Verhältnis zu Maureen überstanden war, ging er davon aus, dass das Leben vermutlich nicht mehr viel besser werden würde.
Was sich – zumindest bis dato, anderthalb Jahre später – als größtenteils richtige Einschätzung herausgestellt hatte. Und dann rief an einem Donnerstag zwischen Thanksgiving und Weihnachten seine Schwester Marta von ihrer Arbeit in Upper West Side an und berichtete ihm, dass ihre Mutter ins St. Vincent’s Hospital in der siebten Avenue eingeliefert worden war und dass es ernst war.
Krebs in der Bauchspeicheldrüse, das erfuhr er, als er dort ankam. Inoperabel, diese Information bekam er außerdem. Es war nur noch eine Frage von Wochen.
Dieses Mal trauerte er. Er begriff, dass er sich seine Mutter als unsterblich vorgestellt hatte, was sie natürlich nicht war. Sie war neunundsechzig Jahre alt, und er begriff auch, dass sie das einzige Wesen auf dieser Erde war, das er jemals geliebt hatte, das einzige, das ihm etwas bedeutete, und er brach dort im Krankenhaus zusammen. Seine Schwestern fanden das beide peinlich, aber ihre Mutter erklärte, dass der Kummer, den man spürt, die Privatsache jedes Einzelnen sei und nichts, worüber andere sich ein Urteil erlauben durften.
Die Mutter blieb im St. Vincent’s, es war nur noch so wenig Zeit, dass es als sinnlos angesehen wurde, sie irgendwo anders hinzuschaffen. In den Tagen nach ihrer Einweisung verschlechterte ihr Zustand sich stetig, und es war fraglich, ob sie es überhaupt bis zum Jahreswechsel schaffen würde.
Am 23. Dezember, zwei Tage vor Weihnachten, rief eine Krankenschwester an, um ihm zu sagen, er solle ins Krankenhaus kommen. Sie erklärte ihm, dass seine Mutter ihm etwas Wichtiges mitzuteilen habe. Sie hatte der Schwester erklärt, dass es sich um ein Geheimnis handele und sie umgehend ihren Sohn sehen müsse. Milos fragte, ob er dafür sorgen solle, dass seine Schwestern auch kämen, aber die Krankenschwester zitierte seine Mutter mit den Worten, diese dürften unter keinen Umständen dabei sein.
Er nahm ein Taxi quer durch Manhattan, schloss die Augen vor allen Staus und jeglicher Weihnachtsdekoration, die ihn höhnisch aus allen Schaufenstern und von jeder Straßenecke aus anzugrinsen schien, während er sich vorzustellen versuchte, worüber seine Mutter wohl mit ihm sprechen wollte. Was es sein konnte, was so wichtig war, dass sie es ihm unbedingt mitteilen musste, bevor sie starb. Ein Geheimnis?
Als er auf der Station ankam, wurde er von derselben Schwester empfangen, mit der er am Telefon gesprochen hatte. Sie bat ihn, sich auf einen hellgrünen Plastikstuhl zu setzen, legte ihm eine Hand auf den Arm und teilte ihm mit, dass seine Mutter vor nur zwanzig Minuten gestorben sei. Es war unbegreiflich schnell gegangen, man hatte noch versucht, ihn über sein Handy zu erreichen, doch als er in seinen Jackentaschen suchte, wurde ihm klar, dass es zu Hause auf dem Küchentisch lag.
Die Schwestern waren bereits auf dem Weg.
6
D en Brief bekam er sieben Monate später. Am 23. Juli 2010.
Es war ein Freitag. Genau genommen war es sein letzter Arbeitstag vor einem zweiwöchigen Urlaub. Am nächsten Morgen wollte er zusammen mit Zlatan und Phil den Zug von der Grand Central Station nehmen, sie hatten eine Blockhütte oben in den Adirondacks gemietet; angeln, Wanderungen, Computerspiele, Bier, Single Malt Whisky, Lagerfeuer und zwei Dutzend DVD-Filme standen auf dem Programm. Es war der dritte Sommer in Folge, in dem sie sich diese Art von Arrangement gönnten. Der klebrigen Sommerhitze Manhattans für eine Weile zu entgehen, das war etwas, nach dem alle vernunftbegabten Menschen strebten. Als er mit dem Umschlag in der Hand dastand, war es halb sechs Uhr abends, und das Thermometer vor seinem Fenster zeigte einhundertunddrei Grad Fahrenheit.
In dem Umschlag
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