Himmel über London
geträumt. Genauer gesagt waren sie in London zu Hause, alle beide. Sein Gönner und Leya.
Sie war die zweite der drei Frauen, mit denen er während seiner ungefähr achtzehn Jahre, die er nunmehr schon geschlechtsreif war, zusammen gewesen war; die Gelbe, und wie man die Sache auch drehte und wendete, sie war diejenige, die er am meisten vermisste. Sie waren fast ein Jahr zusammen gewesen, mehr oder minder, auf jeden Fall aber von August 1999 bis Juli 2000, und der Grund für ihre Trennung war nicht, dass sie Schluss gemacht hätten oder einander überdrüssig geworden wären, wie in dem weißen und in dem schwarzen Fall. Leya, die vom Ursprung her koreanisch war, aber in Philadelphia geboren, war nach London gezogen, ganz einfach. Die Bank, in der sie im Financial District gearbeitet hatte, hatte qualifizierte Leute für ihre Niederlassung in England gebraucht, und Leya war die Qualifizierteste, die sich ihre Chefs denken konnten.
Was ihre Qualifikationen betraf, so konnte Milos diese Beurteilung nur unterschreiben, auch wenn er dabei andere Arten von Qualifikationen im Auge hatte. Auf jeden Fall hatten sie, als vernünftige Menschen, die sie nun einmal waren, klein beigegeben und sich ohne übertriebene Dramatik getrennt – nach einem langen, teuren und traurigen Essen in einem kleinen französischen Restaurant in der Bedford Street in Greenwich Village. Das war am 20. Juli 2000 gewesen, in derselben Nacht hatten sie sich ein letztes Mal in der 27. Straße, in Leyas kleiner Wohnung, geliebt – die bis auf eine Matratze, eine Decke und zwei Kissen bereits leer war –, und am folgenden Nachmittag hatte Leya sich am JFK in ein Flugzeug gesetzt.
Sie hatten sich nie wiedergesehen. Hatten einige Jahre lang vereinzelt E-Mails ausgetauscht, doch wenn Milos sich recht erinnerte, dann hatte er nach dem elften September nichts mehr von ihr gehört.
Und jetzt wollte er sich demnächst in ein Flugzeug mit demselben Ziel setzen. Kein Wunder, dass sie in seinen Träumen auftauchte. Kein Wunder, dass er allmählich wieder an sie dachte.
Inzwischen waren zwar fast zehn Jahre vergangen, und London war eine große, lebendige Stadt, das wusste er, auch wenn er noch nie seinen Fuß in sie gesetzt hatte. Aber er hatte eine Telefonnummer und eine Adresse. Ob beides nach so langer Zeit noch aktuell sein konnte – und ob sie immer noch allein lebte oder überhaupt noch in London lebte –, das waren natürlich Fragen, die nicht zu beantworten waren. Aber wer nicht zu träumen wagt, der wagt auch nicht zu leben.
Als eine Konsequenz aus diesen Überlegungen vermied er es, ihr eine E-Mail zu schicken. Ich bin fünfunddreißig Jahre alt, dachte er. Ich kriege langsam eine Glatze und bin fast übergewichtig. Es ist an der Zeit, dass ich etwas aus meinem Leben mache.
7
Irina
I r ina Miller litt unter einer Zwangsneurose.
Das war schlimm, aber es hätte noch schlimmer sein können. Wenn man bedachte, dass ihre Mutter Therapeutin und ihr leiblicher Vater Psychiater waren, dann dachte sie jedes Mal, dass sie doch noch glimpflich davongekommen war. Deutlich schlimmer hatte es ihren Zwillingsbruder getroffen. Seit Gregorius in die Pubertät gekommen war, war er total verrückt, und es gab nicht viel, was darauf hindeutete, dass es irgendwann besser werden könnte.
Aber er lief trotz allem immer noch frei herum. Ein verwegener Psychopath, der sich mit allen Tricks und Täuschungen durchs Leben schlug, ebenso geschickt wie ein professioneller Slalomfahrer einen steilen Abhang hinunter – so hatte er es selbst vor ein paar Jahren einmal beschrieben, als sie gemeinsam gegessen und sich etwas betrunken hatten, und sie fand, das war ein ziemlich treffendes Bild. Und das fand sie immer noch, die Frage war eigentlich nur, wann die Geschwindigkeit so hoch sein würde, dass er ein Tor verfehlte und aus dem Rennen flog. Sie hatte das Gefühl, dass der Tag kommen würde, und sie war sich sicher, dass auch Gregorius dieses Gefühl hatte. Der lag wahrscheinlich in gar nicht so weiter Ferne, aber genau genommen war das ja nun nicht ihr Problem.
Das – ihr eigenes Problem – hatte einzig und allein mit Sauberkeit und Ordnung zu tun. Genau wie bei ihrem Bruder hatten sich die Symptome in der Pubertät gezeigt, wahrscheinlich im Zusammenhang mit ihrer ersten Menstruation. Das Bedürfnis, sich zu waschen, war während ihrer gesamten Jugendjahre immer stärker geworden, aber es war ihr gelungen, es geheim zu halten, sowohl ihrer Familie als auch
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