Himmel über London
Tricksereien einzumischen.
Irina kam gerade aus der Dusche, wie sie erklärte. Deshalb war sie bis jetzt nicht drangegangen. Maud dachte, dass sie diese Entschuldigung nicht zum ersten Mal hörte, kommentierte es aber nicht weiter. Es gab keinen Grund, in dieser Situation noch Öl ins Feuer zu gießen. Und auch sonst nichts.
»Wie geht es euch?«, fragte sie stattdessen einfach. »Seid ihr dabei, euch fertig zu machen? Ich glaube, es wird ein netter Abend. Ich weiß natürlich nicht, was Leonard wirklich im Schilde führt, aber wir anderen können doch trotzdem unseren Spaß haben, nicht wahr?«
Es kostete sie Kraft, einen so vollkommen sinnlosen Sermon von sich zu geben, das spürte sie selbst. Und wahrscheinlich spürte Irina das ebenso, denn sie antwortete nur knapp:
»Ja, natürlich, Mamilein.«
»Ähm«, fuhr Maud fort, »ja, es ging ihm die letzten Tage nicht so gut. Hoffen wir nur, dass er es durchsteht.«
»Das schafft er bestimmt«, sagte Irina.
»Er hat nicht mehr lange, weißt du.«
»Ja, ich weiß.«
»Ähm«, wiederholte Maud, »und wie geht es Gregorius? Was hat er die letzten Tage gemacht?«
»Da musst du ihn fragen«, erklärte Irina.
»Wie meinst du das?«
»Genau so, wie ich es sage«, antwortete Irina »Dass du ihn danach fragen musst. Ich bin nicht sein Hüter.«
»Sein Hüter?«, rief Maud aus. »Wieso um alles in der Welt benutzt du dieses Wort?«
»Ich weiß nicht, Mama«, seufzte Irina. »Ich will mich jetzt fertig machen. Wir sehen uns dann, ja?«
»Das tun wir«, bestätigte Maud. »Ja, ich habe nur angerufen, um zu hören, ob alles in Ordnung ist, kurz vor so einem …«
Ihr fiel kein gutes Wort ein, deshalb brach sie nach einem ab, und Irina half ihr auch nicht auf die Sprünge. Ein paar Sekunden lang war es still in der Leitung.
»Gut, dann lassen wir es erst einmal dabei«, begann Maud sich zu verabschieden und spürte, wie plötzlich Wut in ihr aufstieg. Es gehören zwei dazu, um ein zivilisiertes Gespräch zu führen, dachte sie. Was zum Teufel ist nur mit ihr los?
»Ja, tschüs dann, Mama«, sagte Irina.
»Tschüs, meine Kleine. Bis gleich … wie gesagt. Und lass uns für einen erfrischenden Regen beten.«
Das war ein altes Ritual. Etwas, das sie aus einem Film über Afrika hatten, den hatten sie gesehen, als Irina und Gregorius nicht älter als fünf oder sechs waren, und die Worte waren viele Jahre lang wie eine Art Mantra zwischen ihnen hin- und hergetragen worden.
Für einen erfrischenden Regen beten. Ausgerechnet heute erschien ihr das seltsam fehl am Platze, und sie bereute, es gesagt zu haben.
Bereute, dass sie überhaupt angerufen hatte, wenn sie ehrlich sein sollte. Aber ab und zu muss man doch mal mit seinen Kindern sprechen, das ist wie zum Zahnarzt gehen oder sich die Zehennägel schneiden.
In dem Moment, als sie ihre Tochter weggedrückt hatte, kam Leonard aus dem Bad. Am liebsten würde ich ihnen eine runterhauen, dachte sie. Beiden, Irina und Leonard. Gregorius übrigens auch, wenn sie schon einmal dabei war, der hatte sich sicher eine verdient – doch dann riss sie sich zusammen und betrachtete ihren Lebensgefährten.
Er sah nicht besonders gut aus.
Zusammengesunken, mit grauer Haut wie ein toter Fisch. Das schüttere Haar klebte auf dem Schädel, als hätte er versucht, eine Art von Gel anzuwenden. Die Hände zitterten, ja, der ganze Mann zitterte, und er atmete schwer mit halb geöffnetem Mund. Das ist fast das Schlimmste, dachte sie, dass er den Mund gar nicht mehr zumacht. Als hätten seine Kiefermuskeln aufgegeben, ein für alle Mal, vielleicht bekam er durch die fleischige Nase auch nicht genug Sauerstoff. Die war übrigens in den letzten Wochen deutlich fleischiger geworden, und wenn das auf der Innenseite genauso ungehindert wuchs wie außen, dachte sie, dann war es vielleicht etwas kritisch mit der Luftzufuhr.
Er war angezogen und bereit. Zumindest sah es so aus; er hatte seinen hellgrauen Anzug angezogen, und wenn sie sich richtig erinnerte, dann hatte sie den während ihres Londonaufenthalts noch nicht gesehen. Das Problem war nur, dass er ungefähr zwei Nummern zu groß geworden war. Sie dachte, dass seine Nase durch die Krankheit gewachsen war, der Rest von ihm dafür aber umso mehr verloren hatte. Sein Körper hatte genug von der Wanderung durch das Jammertal, das war deutlich zu sehen. Ein Bügel aus Haut und Knochen, um die Kleider aufzuhängen, viel mehr war da nicht.
Ein weißes Hemd. Ein dunkelblauer Schlips, von dem sie
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