Himmel über London
dem nächtlichen Besuch, und er erklärte auch den örtlichen Politikern, dass man ihm doch zumindest einen öffentlichen Dank oder eine Auszeichnung für seinen Einsatz schulde, aber auf dem Ohr war man taub. Ein besoffener Barbier und ein armes Weib mit Versorgungsproblemen und magischen Kräften? Nein, über so etwas konnte man in einem Friseursalon lachen, aber auf politischer Ebene ernst nehmen? Unter keinen Umständen.
Hier unterbrach mein Vater seine Erzählung und fragte, ob ich alles verstanden hätte. Ich bekräftigte, dass ich alles verstanden hätte.
Nun gut, nahm mein Vater den Faden wieder auf, ein paar Wochen später ereignete sich die gleiche Sache noch einmal. Die Frau kam zu Bodelsen mit dem gleichen Wunsch, er war ebenso besoffen wie beim letzten Mal, obwohl es dieses Mal bereits vier Uhr morgens war, und er gab ihr auch dieses Mal ein Almosen. Wie viel, das weiß niemand, das hat er nie erzählt. Zwei Tage später wurde bekannt, dass die staatlichen Behörden beschlossen hatten, dass ein neuer Flugplatz, über den schon seit Jahren diskutiert wurde, am Rande der Stadt gebaut werden sollte. Was das für die Entwicklung der Stadt bedeutete, das begriff jeder, und im Rathaus stieß man mit Champagner an.
Der Barbier unterhielt auch dieses Mal seine Kunden mit der Geschichte von der nächtlichen Besucherin, und er bekräftigte auch dieses Mal seinen Anspruch auf einen öffentlichen Dank und die Anerkennung durch die Führungskräfte – und bekam auch dieses Mal ein glattes Nein als Antwort.
Und dann geschah es zum dritten Mal, erklärte mein Vater mit ernster Stimme, während er mich ansah, um sicherzugehen, dass ich auch ordentlich zuhörte. Vor ein paar Wochen besuchte die Dame Bodelsen erneut, sie hatte den gleichen Wunsch wie immer, aber jetzt war der Barbier es leid geworden und gab ihr kein Geld. Nicht einmal, als sie erklärte, dass seine Weigerung böse Konsequenzen für die ganze Stadt haben würde. Da scheiß ich drauf, soll der Barbier gesagt haben. Diese Stadt ist sowieso nur ein Misthaufen.
Und Bodelsen erzählte auch das seinen Kunden. Sie lachten und schüttelten den Kopf; bis auf den, der gerade auf dem Stuhl saß, denn man schüttelt nicht den Kopf, wenn einem die Haare geschnitten werden. Sagte mein Vater. Oder?
Nein, bestimmt nicht, bestätigte ich. Das tut man nicht.
Aber am dritten Tag, fuhr mein Vater fort, fast zur gleichen Zeit, ereigneten sich drei Dinge: der Auftrag für Zeemanns wurde annulliert, das Verteidigungsministerium verschob die Entscheidung für einen Flughafenbau aufgrund plötzlicher Streitigkeiten auf unbestimmte Zeit, und im Rathaus schlug der Blitz ein. Es herrschte eine gedrückte Stimmung in der ganzen Stadt, alle Hoffnung auf die Zukunft war mit einem Schlag fortgewischt, und dann letzte Woche … ja, du hast es ja selbst gesehen, nicht wahr?, sagte mein Vater.
Was denn?, fragte ich, obwohl ich die Antwort ahnte.
Brandstiftung, sagte mein Vater, als wir gerade in unsere Straße einbogen. Jemand hat Benzin auf sein Haus geschüttet und es angezündet. Er ist da drinnen gestorben, der Barbier Bodelsen. Er war betrunken und ist nicht rechtzeitig aufgewacht, wie man annimmt. Ja, das war’s dann ja wohl.
Ich erinnere mich, dass ich an dem Abend noch lange wach im Bett lag und an den verbrannten Barbier dachte. Am nächsten Tag hörte ich mich unter den Schulfreunden um und erfuhr, dass die Geschichte wohl wahr war. Einige der anderen Eltern hatten ungefähr das Gleiche wie mein Vater erzählt, aber viele hatten außerdem gesagt, dass man das nicht weitertragen sollte. Besonders nicht an Leute, die nicht hier am Ort wohnten.
Und wer hinter der Brandstiftung steckte, das wurde nie geklärt. Gleichzeitig wurde uns, mir und meinen Freunden, deutlich, dass die meisten meinten, es wäre ihm nur recht geschehen. Zumindest die meisten Erwachsenen. Er hätte ihr doch ein bisschen Geld geben können, dieser geizige Alte?
Ich weiß nicht, warum diese alte Geschichte ausgerechnet heute in meinem Hirn aufgetaucht ist. Wenn man dem Tod so nahe ist wie ich, dann bildet man sich gerne ein, dass die Fragmente und Erinnerungen, die im eigenen Kopf auftauchen, etwas zu bedeuten haben. Etwas Prägnantes sagen wollen darüber, was der Sinn gewesen ist, oder einen Hinweis darauf geben, was einen auf der anderen Seite erwartet, wenn der Kampf vorüber ist.
Aber das sind sicher nur eitle Hoffnungen. Das meiste, dem wir unsere Gedanken widmen, bedeutet im
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