Himmel über London
einer griechisch-orthodoxen Kirche in London, da erinnerte sie sich trotz allem daran, dass sie dieses Gebet gesprochen hatte. Dass sie tatsächlich Clarissas Tod gewünscht hatte.
Erinnerte sich, nachdem sie daran erinnert worden war.
Erinnert durch sechsunddreißig kleine, handgeschriebene Worte, die in einem Brief standen, den sie im Pub Phoenix in der Moscow Road bekommen hatte.
Wohin sie auf Anweisung eines gewissen Steven G. Russell in einem Buch gegangen war, das Bekenntnisse eines Schlafwandlers hieß.
So war es. Genau so sah momentan die Wirklichkeit aus, und jetzt begann der Chor wieder zu singen.
Hilf mir, nach Hause zu kommen. Ich friere. Was bedeutete das?
Ich sollte Hilfe suchen, dachte Irina Miller. Ich sollte mit jemandem über das hier reden.
Sie blieb noch weitere zehn Minuten in der Kirche sitzen. Die Gedanken jagten ihr wie hungrige Schakale durch den Kopf. Noch so ein schreckliches Bild. Hungrige Schakale? Dann stopfte sie den Brief in die Manteltasche, erhob sich auf wackligen Beinen und machte sich auf den Rückweg nach Knightsbridge.
Als sie die Lobby des Rembrandt betrat, war es halb fünf, und an der Rezeption war eine große Diskussion im Gange. Intuitiv wandte sie sich so schnell es ging den Fahrstühlen zu, um möglichst umgehend auf ihr Zimmer zu kommen, doch gerade als sie das große Blumengesteck umrundet hatte, stellte sie fest, dass eine der aufgeregten Stimmen Gregorius gehörte.
Nach einer Sekunde des Zögerns drehte sie sich um und versuchte sich einen Überblick darüber zu verschaffen, was da eigentlich vor sich ging. Eine bunte Schar von sieben, acht Personen stand vor – und hinter – dem Empfangstresen und diskutierte. Eine rothaarige junge Frau mit einem großen Hund war darunter – ziemlich viel Schäferhund, wenn Irina es richtig sah, aber nicht hundert Prozent. Des Weiteren zwei hundertprozentige Polizeibeamte in Uniform, eine schmächtige kleine Japanerin, die aussah, als wäre sie am falschen Platz, sowie ein paar andere Herren in strengen grauen Anzügen und gleichen rotgestreiften Krawatten; vermutlich Hoteldirektoren oder etwas in der Art, jedenfalls sahen sie sehr bedeutungsvoll aus. Und dann die beiden von der Rezeption, die sie wiedererkannte.
Und wie gesagt Gregorius.
»Mein Name ist Gregorius Miller«, erklärte er gerade mit lauter Stimme. »Es handelt sich hier um einen Irrtum. Einen bedauerlichen Irrtum, das ist alles.«
»Paul F. Kerran«, sagte die junge Frau mit dem Hund noch lauter. »Du willst also leugnen, dass du dich so genannt hast?«
»Nie im Leben«, versicherte Gregorius, »den Namen habe ich noch nie gehört.«
»Aber du hast Fingal gestohlen!«
»Nicht gestohlen!«, protestierte Gregorius. »Wir wurden ausgesperrt.«
»Nun hören Sie«, sagte einer der Direktoren, »Sie kommen hier mitten in der Nacht an und schmuggeln diesen … diesen Köter hier ins Haus. Das ist gegen unsere Hausordnung. Unsere Gäste haben das Recht auf …«
»Fingal ist kein Köter«, sagte das Mädchen.
Der Hund gähnte und sah unglücklich aus.
»Er muss mal raus«, erklärte das Mädchen.
»Das ist Tierquälerei«, sagte der Mann hinter dem Tresen, der mit dem albernen Schnurrbart.
»Er ist ein Betrüger«, sagte das Mädchen, »er hat den Unfall meiner Mutter ausgenutzt, um …«
»Lassen Sie uns das hier zu einem Ende bringen«, unterbrach der andere Direktor und wedelte verärgert mit der Hand. »Wir können doch nicht den ganzen Tag hier stehen und palavern. Das ist ein sehr angesehenes Hotel, wir können das nicht dulden.«
»Genau«, stimmte einer der Polizisten zu, und jetzt sah Irina, dass er ihren Bruder in einem festen Griff um den Oberarm hielt. »Sie sind jetzt so gut und kommen mit, dann können wir das alles in aller Ruhe auf dem Revier klären.«
Worauf er sich dem Mädchen zuwandte. »Es wäre gut, wenn es Ihnen möglich wäre mitzukommen, damit Sie Ihre Zeugenaussage machen könnten.«
»Ich setze mich mit diesem Gangster nicht in ein Auto«, erklärte das Mädchen.
»Wir regeln die Sache«, erklärte der andere Polizeibeamte. »Also, kommen Sie freiwillig mit, oder müssen wir Sie härter anpacken?«
»Das ist ein Komplott«, rief Gregorius. »Ich will mit einem Journalisten reden!«
Irina stand immer noch zehn Schritte Abstand entfernt. Einer der Polizisten sprach jetzt in ein Handy, gab irgendeinem Untergebenen Anweisungen. Irina dachte, dass sie eigentlich irgendwie eingreifen sollte – und normalerweise hätte sie
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