Himmel über London
nahm er seine Aktentasche, und sie gingen los.
Wie du willst.
59
E ndlich.
Klapprig bin ich. Vielleicht klappriger als je zuvor, aber wenn Jesus von Nazareth einen ganzen Tag am Kreuz hängen konnte, dann wäre es ja wohl gelacht, wenn ich mich nicht auch durch das letzte Kapitel schleppen könnte. Die entscheidenden Stunden.
Und der Kopf fühlt sich relativ klar an. Auf dem Weg heute Vormittag zurück von Prendergast bin ich schnell in einen kleinen Laden auf der Garway Road gegangen. Habe zwei Dosen von etwas gekauft, das Black Booster heißt, das ist so eines dieser modernen Powergetränke, die das Blut schneller durch die Adern fließen lassen, zumindest wird das behauptet. Ich habe eine dieser Dosen geleert, bevor wir losgegangen sind – natürlich ganz im Geheimen, Maud würde diese Art von Mumbo-Jumbo nicht zulassen –, und ich spüre jetzt schon, wie das Elixier in mir wirkt. Die andere Dose habe ich in der Aktentasche, zusammen mit Fjodors Tinktur, ja, ich kann wohl behaupten, dass ich alles unter Kontrolle habe.
Ich habe meine Medizin nicht genommen. Ich bin die Schmerzen inzwischen so gewohnt, dass ich hoffe, sie eine Weile in Schach halten zu können. Sie verhalten sich wie eine alte, streitsüchtige Vettel, man sollte sich nicht auf einen Nahkampf mit ihnen einlassen.
Das Taxi biegt jetzt in die Bayswater Road ein. Maud malt sich die Fingernägel an und ist so in ihre eigene Welt vertieft, dass sie gar nicht merkt, dass wir in die falsche Richtung fahren.
Ich muss heute Nachmittag fast zwei Stunden geschlafen haben, nachdem ich die letzten Seiten meiner Aufzeichnungen gelesen habe, diese traurigen Notizen – und ich glaube nicht, dass ich etwas geträumt habe.
Aber als ich aufwachte, es war kurz vor fünf, da tauchte ganz plötzlich eine Episode in meinem Kopf auf; sie war sonderbar deutlich in ihren Konturen, vielleicht hatte ich bereits im Schlaf mit ihr zu tun. Diese Grenze wird übrigens immer undeutlicher.
Es ging um meinen Vater und mich. Ich glaube, ich war wohl so acht oder neun Jahre alt. Ende der 1940er, ein paar Jahre, nachdem meine Mutter gestorben war. Wir waren in unserer Heimatstadt unterwegs, ich erinnere mich, dass wir Hand in Hand gingen, es war abends, aber noch nicht dunkel, es muss also im Sommer gewesen sein. Aber es spielt natürlich keine Rolle, welche Jahreszeit es war.
Aus irgendeinem Grund befanden wir uns in einem Teil der Stadt, in dem ich vorher noch nie gewesen war. Ich weiß nicht, warum wir dort waren, aber ich glaube, wir waren irgendwo zu Besuch gewesen und jetzt auf dem Heimweg. Dann bogen wir um eine Ecke und entdeckten ein Haus, das gerade gebrannt hatte. Es stand wie ein schwarzes Skelett dort, die Grundmauern und der Schornstein waren noch da, aber nur noch zwei der Wände. Verrußt und traurig sah das aus; ich erinnere mich, dass es auch merkwürdig roch, und obwohl ich noch klein war, war mir klar, dass es erst vor kurzer Zeit gebrannt haben musste. Dann fragte ich meinen Vater, was denn passiert sei.
»Weißt du das nicht?«, erwiderte er. »Das war doch das Haus vom Barbier Bodelsen. Es ist letzte Woche abgebrannt.«
Und während wir unseren Heimweg fortsetzten, erzählte er mir die Geschichte: Bodelsen hatte seinen Friseursalon am Markt gehabt, solange man denken konnte. Zumindest bereits seit lange vor dem Krieg. Das Merkwürdige an dem Salon war, dass er nur jede zweite Woche geöffnet war. Was daran lag, dass Bodelsen soff. Eine Woche soff er, die andere schnitt er den Leuten die Haare und rasierte sie. Aber er vermischte das nie, entweder er machte das eine oder das andere.
So ist es immer gelaufen, erklärte mein Vater, und es gab niemanden, der das merkwürdig fand.
Dann hatte der Barbier vor ein paar Monaten einen nächtlichen Besuch bekommen, während einer seiner Saufwochen. Es war eine Frau, jung und schön seiner Beschreibung nach, und sie bat ihn um Hilfe, um ihre drei hungrigen Kinder zu füttern – und da sie magische Kräfte hatte, versprach sie ihm, dass die Stadt reich belohnt werde, wenn er ihr etwas gab.
Bodelsen gab ihr ein paar Groschen, sie bedankte sich und verschwand, und bereits am nächsten Tag bekam eine der klei nen Fabriken im Ort, Zeemanns Teknik A/S, vom Staat ei nen Auftrag in Millionenhöhe. Was viel bedeutete: Alle Arbeiter bekamen eine Lohnerhöhung, man musste neue Mitarbeiter einstellen, und es wurde der Anfang eines allgemeinen Aufschwungs für die ganze Stadt.
Bodelsen berichtete seinen Kunden von
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