Himmel über London
annahm, dass er neu war, und den er nicht ordentlich hatte binden können. Aber das war normal. Der oberste Hemdknopf geöffnet, auch das war normal.
Man sollte ihn in dieser Kleidung begraben, dachte sie. Dann würde er sich zu Hause fühlen. Aber sie fragte ihn nicht, was er von der Sache hielt.
Die Schuhe waren geputzt, aber nicht zugebunden. Auch daran hatte sie sich gewöhnt, wenn er ausnahmsweise einmal Schuhe mit Schnürsenkeln trug, dann war sie diejenige, die sie zubinden musste.
Was sie auch jetzt tat, ohne dass er sie darum bitten musste. Er saß auf der Bettkante und atmete schwer, und als sie fertig war, tätschelte er ihren Kopf.
Wie einem Hund, dachte sie. Ganz so, als wäre ich in all diesen Jahren sein treues altes Cockerspanielmädchen gewesen. Verdammte Scheiße.
Es war kein gutes Zeichen, dass Flüche auf diese Art in ihr aufstiegen. Absolut nicht. Wenn dieser Abend auf welche Weise auch immer sicher in den Hafen geschippert werden sollte, dann war es notwendig, dass sie ruhig und gefasst blieb. Dass sie dem inneren Druck nicht nachgab. Denn dann konnte was auch immer passieren, ja, was auch immer.
Umso mehr Fragezeichen gab es hinsichtlich anderer Dinge – aber eigentlich, so redete sie sich selbst ein, eigentlich ging es doch nur darum, die Zeit durchzustehen. In sechs, sieben Stunden war alles vorbei, sie würden hoffentlich wieder hier in diesem Zimmer zurück sein, und alle Fragezeichen würden geklärt sein. Genau, betrachte die Zeit und halte durch, genauso sah das Rezept aus.
Was am meisten an ihr nagte, dachte sie, während sie sich aufrichtete und ihr Kleid abbürstete, was wie ein Splitter oder ein Nagel in der Seele bohrte, das war die Überlegung, dass sie sich seit zwanzig Jahren genau so verhielt. Oder seit dreißig oder vierzig. Durchhalten. Aber in diesen Wochen in London war etwas passiert. Eine Art Einsicht war ihr gekommen. Schwer zu sagen, worum es sich dabei genau handelte und welche Konsequenzen sich möglicherweise daraus ergaben, aber sie hatte das Gefühl, eine Grenze überschritten zu haben. Oder vielleicht durch eine Schleuse gegangen zu sein? Aus einem düsteren, muffigen Zimmer herausgetreten zu sein, in dem sie sich viel zu lange aufgehalten hatte und in das zurückzukehren sie nicht einmal im Traum dachte.
Aber was war das für ein Zimmer? War es nicht nur wieder eine dieser albernen therapeutischen Konstruktionen? Sie verabscheute diese billigen Bilder. Dieses läppische Psychogelaber. Zimmer der Seele. Orientierungspunkte der Zeit. Erinnerungsgebilde. Es gab nur eine Wahrheit: alle Menschen sind in ihrem eigenen Bewusstsein gefangen. Das hatte sie bereits von Ralph deLuca gelernt. Doch was beinhaltete das wiederum? Was bedeutete es eigentlich?
Und wie sie schon dieses Wort hasste: eigentlich. Das war der verräterischste aller Begriffe, da er andeutete, dass es noch etwas anderes gab. Vorspiegelte, dass hinter allem, was geschah, allem, was gesagt, erlebt oder nur geradebrecht wurde, etwas Richtiges versteckt war, etwas Gediegenes. Etwas Eigentliches; eine Wirklichkeit, die tatsächlich die Wirklichkeit an sich war, die diesen vollkommen ungerechtfertigten Anspruch stellte und in die wir mit Hilfe unseres gesunden Verstandes und heilsamer Therapie unsere Füße setzen sollten, statt in unseren üblichen verlogenen Flusen von Metaphern, Konventionen und Fiktionen herumzuschwimmen.
Aber so war es nicht. Es gab keine derartige Wirklichkeit, es gab kein eigentlich, und vielleicht war es auch nur so, dass diese Wahrheit – die in keiner Weise neu oder überraschend für sie war – im Laufe dieser Tage in dieser fremden Stadt so deutlich geworden war. Dass es diese Grenze war, die sie überschritten hatte.
Aber wenn es kein eigentlich gab, was war dann der Sinn ihres Ausharrens? Sich tapfer einzureden, dass es bereits ein Ziel an sich sei, würde heißen, das letzte Handtuch zu werfen, das wusste sie, und das gedachte sie nicht zu tun. Unter keinen Umständen, es war Leonard, der dabei war, das Handtuch zu werfen, nicht sie.
Und die Einsicht, dass er tatsächlich in nur kurzer Zeit fort sein würde, überfiel sie mit voller Wucht.
»Hast du deine Medikamente genommen?«, fragte sie, als sie das Zimmer verlassen wollten.
»Ja.«
»Hast du Schmerzen?«
»Nein.«
»Bist du müde?«
»Hör auf zu nerven. Lass mich bitte sterben ohne dein Generve.«
Wie du willst, Leonard, dachte sie und zupfte einen schwarzen Fussel von seinem Jackenaufschlag. Dann
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