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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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sich mit lauten Stimmen in einer ihm unbekannten Sprache unterhielten, und ließ sich auf einem der cremefarbenen Ledersessel in der großzügig angelegten Lobby nieder – hinter einer Glasvitrine voll mit alten Krickettrophäen und außer Sichtweite der gefühllosen Empfangsdamen.
    Denn die Lage musste analysiert werden. Ihm kam die Einsicht – die möglicherweise erklären konnte, was mit den verschwundenen Figuren passiert war –, dass es … ja, was genau? Eine neue Grenzlinie zwischen Fiktion und Wirklichkeit gab? Ja, etwas in der Art; das heißt, die mögliche Existenz einer anderen Art von Linie als die, mit der er die ganze Zeit gearbeitet hatte und die zu perforieren ihm gelungen war. Mit Türen, die von der anderen Seite geöffnet werden konnten. Genau, und außerdem war es ja so, konstatierte er mit bittersüßer selbstkritischer Schärfe, dass sowohl der Chefrezeptionist als auch sein alberner Schnurrbart nur Schöpfungen des Autors selbst waren, während die beiden unsympathischen Damen auf der anderen Seite des Kricketzylinders – genau wie das ganze Hotel übrigens – überprüfte Wirklichkeit waren. Um es so auszudrücken, und ohne der Ordnung halber in Details zu gehen, aber diese verwirrende Unterscheidung existierte, das war nicht zu leugnen. Außerdem war er sich ziemlich sicher, dass die betreffenden Damen sich beharrlich weigern würden, ihm Informationen über die Hotelgäste zu geben; zum einen fehlten die notwendigen Informationen wahrscheinlich sowieso – sie existierten einzig und allein bei ihren fiktiven Kollegen, zu denen der Autor momentan keinen Kontakt bekam, da er sie ganz einfach aus der Geschichte herausgeschrieben hatte; zum anderen hatte sein eigenes Verhalten gerade eben in ihren Augen einiges zu wünschen übrig gelassen. Es würde ihn nicht wundern, wenn gleich ein verkniffenes Muskelpaket auftauchen würde, ihm eine Hand auf die Schulter legte und ihn bat, sich aus dem Hotel zu entfernen, aber pronto.
    Das zu tun, hatte er selbst auch vor, deshalb konnte er sich in dieser Beziehung sicher fühlen, aber er brauchte vorher noch ein paar Minuten, um in Ruhe und Frieden über eine Folgefrage nachzudenken, die im Kielwasser dieses unerwünschten Schützengrabens, nein, Wallgrabens, zwischen Fiktion und Wirklichkeit aufgetaucht war. Sie betraf diese Brücke, die man von beiden Seiten aus betreten konnte. Also, dachte Lars Gustav Selén, also … was ist es dann, was da am Rande meiner Wahrnehmung flimmert?
    Natürlich! Die verlorene und wiedergefundene Brieftasche! Wie viel war diese infame Episode eigentlich wert – im Licht der überraschenden Entwicklung des Abends? Was hatte dieser Kontakt zwischen Irina Miller und ihm eigentlich wirklich bewiesen? Schnell ließ er den Handlungsablauf noch einmal im Kopf durchlaufen: wie er die Beute präpariert hatte, d. h. die Brieftasche, wie Fräulein Miller sie gefunden hatte, genau wie er es vorgeschrieben hatte, wie sie angerufen hatte, wie sie kurz miteinander gesprochen hatten – er in einem außerordentlich verdrehten und primitiven Englisch, um sich nicht zu entlarven – und wie sie sich hinsichtlich der Übergabe geeinigt hatten. Dann hatte er sie durch das Fenster beobachtet, auf dem Weg zum und auf dem Weg vom Hotel, und anschließend … ja, nachdem sie die Brieftasche zurückgebracht hatte, war da nichts mehr. Aber einmal angenommen … und hier war er gezwungen, ein paar Mal tief Luft zu holen, um seine Nerven zu beruhigen … angenommen, dass es sich gar nicht um Irina Miller gehandelt hatte, sondern um einen ganz anderen – nicht fiktiven – Menschen! Hatte sie während des Telefongesprächs jemals ihren Namen genannt? Konnte es sich nicht um Emma Farting aus Putney oder Priscilla ffolliot-Pym auf zufälligem Besuch aus Derby oder um welche x-beliebige Frau auch immer gehandelt haben?
    Hatte er überhaupt die Grenze perforiert? Oder sie? Er spürte, wie die Atemnot, die ihn im Restaurant überfallen hatte, sich wieder näherte, doch bevor alles vollkommen verwirrt und verzweifelt erschien, wurde ihm klar, wie er sich verhalten musste, um weiterzukommen. Als gingen sie auf sonderbare Weise miteinander Hand in Hand – die Atemnot und der Durchblick. Wie dem auch war, er musste zu dem Einfachen und Selbstverständlichen zurückfinden. Ohne weiteres Zögern zurück zum Lords ! Zu den Notizbüchern und dem Computer! Es war ein großer Fehler gewesen, an diesem Abend ohne sie auszugehen, aber es war noch nicht zu spät,

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