Himmel über London
fort, von seinem Papier abzulesen: »Ich möchte euch freundlich, aber entschieden darum bitten, den Mund zu halten und mich zu Ende reden zu lassen. Die Sache ist nämlich die …«
Hier wurde er von einer Hustenattacke unterbrochen, doch es gelang ihm, sie zu stoppen, indem er sich zweimal mit geballter Faust auf die Brust schlug. »… die Sache ist die, dass keiner von euch hier sitzen würde ohne die folgenden zwei Voraussetzungen. Zum einen, weil ihr glaubt, dass ich reich bin wie sonst was. Zum anderen, weil ihr damit rechnet, dass ich bald sterben werde. Wie es um die erste Frage steht, das wird euch Notar Prendergast während der Käseplatte im Detail erörtern, wie es um meinen Tod steht, das habe ich bereits erklärt. Ich werde vor Mitternacht nicht mehr sein …«
»Aber mein lieber Leonard, du kannst doch nicht wollen, dass …?«, versuchte Maud es, doch er winkte ihren zögerlichen Einwand mit einer einfachen Handbewegung vom Tisch. Als ginge es um eine Fliege oder eine Rußflocke.
»Prendergast wird mein Testament in allen Details vortragen«, fuhr er fort, »genau wie meine Motive, die dahinterstecken, doch bis dahin haben wir noch zwei Gänge vor uns wie auch ein paar auserlesene Weine. Mein Leben ist in keiner Weise so verlaufen, wie ich es haben wollte, aber es bereitet mir ein gewisses Vergnügen, trotz allem meine letzten Stunden so gestalten zu können, wie ich es möchte. Ähm! Eine gute Lüge eilt von Beirut nach Damaskus, während die Wahrheit noch nach ihren Sandalen sucht, wie es im Koran heißt. Das versteht natürlich keiner von euch, aber ich rate euch trotzdem, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich rate euch außerdem, die Getränke heute Abend zu genießen. Meine eigene Zunge ist nicht mehr viel mehr als ein sinnloses Stück Leder und hat ihre vitalsten Geschmacksfunktionen verloren, aber dennoch möchte ich, dass ihr wisst, dass keiner der Weine an diesem Abend weniger als einhundertfünfzig Pfund pro Flasche gekostet hat. Prost und lasst es euch schmecken, ihr Glücksritter!«
Er trank, faltete seine Papiere zusammen und ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. Das Spotlight erlosch.
Stille kehrte wieder ein; wie ein Tuch, so dachte Maud, legte sie sich über die gesamte Gesellschaft, dann ergriff Prendergast die Initiative zu einem einsamen, zögerlichen Applaus, und in dessen Folge wurden prompt die genannten Pasteten serviert.
Sowie ein bereits gepriesener Sancerre in neuen Gläsern.
69
L eya saß an einem Fenstertisch im Pub The Ox and the Plough schräg gegenüber dem Terracotta Restaurant und dachte nach. Es waren zwanzig Minuten vergangen, seit sie eine SMS an Karen geschickt hatte, und bis jetzt hatte sie noch keine Antwort erhalten.
Sie hatte einfach geschrieben, dass sie sich hier in diesem Pub aufhielt, dass es nett wäre, wenn Karen herkommen und das Handy hier abliefern könnte. Da Milos selbst beschäftigt war, wäre das die beste Lösung. Ein Finderlohn war versprochen.
Es war ein langer und aufregender Tag gewesen, und sie spürte, dass ihr Kopf nicht mehr ganz so funktionierte wie sonst. Die Sorge um Milos den Nachmittag über, der Besuch bei St. Mary’s, der schnelle Beschluss, dass er zum anberaumten Fest müsse, und die hektische Anspannung, die all das erforderte, ja, das hatte ihrem ansonsten so wachen und klar denkenden Kopf wirklich alle Kraft abverlangt – und erst jetzt, als sie hier eine halbe Stunde in aller Ruhe mit einem Sandwich und einer großen Tasse Ingwertee sitzen durfte, konnte er seine normale Kapazität wiedererlangen.
Und deshalb fing sie an, nachzudenken. Da gab es etwas, das sie übersehen hatte. Etwas, das sie hätte bemerken müssen; einen Gedankenfaden, den sie zwar erahnt hatte, aber sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihn aufzuwickeln, da es so vieles anderes gab, um das sie sich hatte kümmern müssen.
Da war dieser Überfall. Dieses verlorene und wiedergefundene Handy. Diese Karen.
Ja, genau, dachte sie, da irgendwo saß der Knoten.
Sie ging zur Bar und bestellte sich noch eine Tasse Tee. Der Barkeeper fragte sie, ob sie nicht lieber ein Bier oder zumindest ein Glas Wein haben wolle, trotz allem saß sie ja in einem Pub, doch sie schüttelte nur den Kopf. Grüner Tee mit Ingwer und Zitrone, das war genau das, was sie brauchte.
Als sie an ihren Platz am Fenster zurückgekehrt war, warf sie einen Blick auf das Restaurant schräg gegenüber und beschloss, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Sie trank
Weitere Kostenlose Bücher