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Himmel über London

Himmel über London

Titel: Himmel über London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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Details gefragt, und nach Leonards kurzen Einleitungsworten, beim Auftritt der Muscheln und Dorschwangen, hatte sich Stille über den Tisch gesenkt.
    Obwohl von absoluter Todesstille nicht die Rede sein konnte, wie Maud konstatierte, da ihr Gehirn und ihr Observationsradar schon einmal eingeschaltet waren. Gregorius hatte nie gelernt, seine Suppe zu essen, ohne zu schlürfen, und so war es auch jetzt. Sie dachte, dass leise, stimmungsvolle Musik im Hintergrund gar nicht schlecht gewesen wäre, etwas, was sie normalerweise in Restaurants überhaupt nicht schätzte – aber an diesem Abend, in dieser Gesellschaft und unter diesen unklaren und leicht bedrohlichen Aussichten wäre es schön gewesen, hätte etwas dieses Gefühl von Schicksalsschwere kontrapunktieren können.
    Aber vielleicht wollte es das Geburtstagskind ja genau so haben? Seit seinem kleinen Präludium, als Mr. Skrupka eingetroffen war, hatte er kein Wort mehr gesagt, und sie fragte sich, ob er wirklich die Kontrolle über die Dinge hatte. Ob er wirklich anwesend war. Er saß über seinen Suppenteller gebeugt, ungefähr wie ein eifersüchtiges Pandaweibchen, das sein einziges Junges bewacht; sie hatte das vor nicht allzu langer Zeit in einer Natursendung im Fernsehen gesehen, und seine Gesichtsfarbe erschien ihr beunruhigend blass. Im flackernden Schein der Kerzen sah sie graublau und leblos aus, wie etwas Totes, Blutleeres, das monatelang in schmutzigem Wasser gelegen hatte; sie war sich nicht sicher, ob sie das auch im Fernsehen gesehen hatte, aber vermutlich schon – und falls es möglich war, Stück für Stück zu sterben, so schien dieser Prozess in Leonards Fall von außen nach innen und von oben nach unten zu verlaufen.
    Sie fragte sich, warum sie dasaß und sich diesen makabren Überlegungen hingab, nahm aber an, dass es daran lag, dass sie sich für die für sie ungewohnte Taktik entschieden hatte, zu schweigen. Leonard hatte das Wort »Weibergeschwätz« im Taxi benutzt, das konnte sie nicht so schnell vergessen, und einen neuen Versuch mit dem einäugigen und halbtauben Notar zu unternehmen erschien nicht besonders sinnvoll zu sein.
    Aber warum ihre eigenen beiden Kinder am Tisch hocken und aussehen mussten wie zwei mundfaule Verwandte vom Lande, das zu begreifen fiel ihr schwer. Sie konnten doch zumindest ein wenig zur Unterhaltung beitragen? Irgendwelche Banalitäten von sich geben, war das zu viel verlangt? Den mysteriösen sechsten Gast beispielsweise fragen, ob sein verdammter Kopf ihm weh tat?
    Jetzt habe ich schon wieder geflucht, stellte Maud Miller fest und legte den Suppenlöffel hin. Wie sollen wir diesen Abend nur überstehen? Es ist ein Gefühl, als ob … es ist wirklich ein Gefühl, als stünden wir am Rande einer Katastrophe.
    Doch als die Suppenteller hinausgetragen worden waren und man auf den dritten Gang wartete, Thunfischpasteten mit Steinbeißerrogen und pochierten Wachteleiern, da räusperte Leonard sich umständlich und laut vernehmbar. Kam auf seine wackligen Füße, zog ein paar zusammengefaltete Papierbögen aus der Innentasche seiner Jacke und ergriff das Wort:
    »Das Ende ist nahe!«
    Er machte eine Pause, hustete zehn Sekunden lang und entfaltete seine Papiere. Dann bat er um ein paar Minuten elektrisches Licht, damit er gut lesen könnte. Ein unsichtbarer dienstbarer Geist, vermutlich Mr. Barolli, erfüllte seinen Wunsch, und ein Spotlight in der Decke wurde eingeschaltet. Niemand sagte etwas. Irina Miller schloss die Augen und atmete mit offenem Mund, wie ihre Mutter registrierte.
    »Es ist kein Geheimnis, warum wir uns heute Abend hier versammelt haben. Dies ist keine Geburtstagsfeier, dies ist die Ouvertüre für ein Begräbnis!«
    Er ließ seinen Blick schweifen wie ein gealterter General, der seine Truppen vor dem Angriff im Morgengrauen musterte. Dem letzten Kampf. Gregorius Miller hatte sein Weinglas gehoben, stellte es aber wieder hin. Milos Skrupka tastete über seinen bandagierten Kopf, und Prendergast lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Ein kurzes Lachen huschte über sein Gesicht, wie der Schatten eines Raubvogels über einem Steinbruch, und vielleicht gelang ihm auch noch ein aufmunterndes Nicken in Richtung Geburtstagskind.
    »Innerhalb nur weniger Stunden werde ich tot sein, nein, ich will jetzt keinen Chor hohlklingender Proteste hören!«
    Es waren wirklich keine Proteste zu hören, weder von einem Chor noch von hohlklingenden Solisten, aber das schien Leonard nicht zu bekümmern; er fuhr

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