Himmel über London
schwer dement war, also war sie es wahrscheinlich nicht. Wobei das keine Rolle spielte, absolut keine.
Er leerte sein zweites Glas und rief den Kellner zu sich. Erklärte, dass er es sich anders überlegt habe, und bat um die Rechnung.
»Ich habe noch eine kleine Frage.«
Der Kellner legte den Kopf schräg und lächelte ihm entgegenkommend zu.
»Eigentlich hatte ich erwartet, heute Abend eine Gruppe Bekannter hier zu sehen. Ist nicht ein Tisch von einem Mr. Vermin reserviert worden?«
Es fiel ihm schwer, so eine lange Frage hervorzubringen, wo er doch kaum genug Luft zum Atmen hatte, er musste geradezu mit dem Magen von unten nachpressen, damit die Worte aus der Kehle herauskamen, und für einen Moment fürchtete er, seine letzte Stunde sei gekommen. Dass er in diesem trügerischen Restaurant im Herzen Londons an innerlichem Druck sterben sollte.
Doch so schlimm war es nicht. Der Kellner behielt sein professionelles Lächeln auf dem Gesicht.
»Warten Sie einen Moment bitte, ich werde nachsehen.«
Damit ging er zu einem hohen Tisch am Eingang und schaute in einer schwarzen Mappe nach. Anschließend kam er zurück mit der Rechnung für zwei Glas Wein und einem lächerlich kleinen Karamellbonbon in schwarzweißem Papier.
»Mr. Vermins Tisch ist vor zwei Tagen abbestellt worden.«
»Abbestellt?«
»Ja.«
»Von wem denn? Ich meine …«
»Das geht nicht aus den Unterlagen hervor. Vielleicht von Mr. Vermin selbst. Wenn Sie wünschen, kann ich …«
»Nicht nötig«, unterbrach Lars Gustav und legte einen Zwanzig-Pfund-Schein auf den kleinen Silberteller, ohne die Rechnung anzuschauen. »Danke. Aber das … ist wirklich … nicht … nötig.«
Er hastete aus dem Restaurant. Brechreiz schoss ihm das Rückgrat hinauf, doch als er draußen auf dem Bürgersteig stand, kam eine Windböe und verbesserte die Lage ein wenig. Er lehnte sich an eine Wand und holte mehrmals tief Luft; schob sich zwei Finger unter den Hemdkragen, um die Luftzufuhr zu erleichtern, und versuchte sich zu beruhigen.
Wie war das möglich?
Wie konnte so etwas überhaupt …?
Es war nicht möglich, das war die einzig denkbare Antwort. Es war außerhalb aller denkbaren Möglichkeiten. Zwar hatte er weder seinen Laptop noch irgendein Notizbuch mit ins Restaurant genommen und konnte deshalb den letzten Text nicht überprüfen, aber warum hätte das auch notwendig sein sollen? Er hatte Schlupflöcher gelassen, das war ganz auf einer Linie mit der Philosophie des weichen Kerns, aber doch nicht so. Dass sich das gesamte Sextett weigerte, zu dem entscheidenden Kapitel zu erscheinen, das konnte doch nur bedeuten, dass …? Dass was, bitte schön? , fragte Lars Gustav Selén sich und machte sich langsam auf den Weg den Bürgersteig entlang zur Oxford Street. War es überhaupt möglich, rationale Fragen bei einem so ausgeklügelten, emotionalen Plan zu stellen?
Zumindest konnte es sich nicht um eine Art von kollektivem Beschluss handeln, dessen war er sich sicher. Es musste Leonard sein, der dahintersteckte, dieser verfluchte Leonard Vermin, dem er so viel Leben, Leiden und Leidenschaft geschenkt hatte, es musste seine Idee gewesen sein! Auf irgendeine Art und Weise hatte er sich am Rande seines Grabs losgerissen, eigentlich hätte es nicht möglich sein sollen, so ein Manöver durchzuführen, aber nichtsdestotrotz war es passiert. Was sonst? Oder doch nicht?
Und wo befanden sie sich? Bald war das die Frage, die auftauchte und alle anderen Frustrationen verdrängte. Wo waren sie hingegangen? Sie konnten sich doch nicht in Rauch auflösen. Aufhören zu existieren. Das war vollkommen undenkbar, noch weiter von dem Fassbaren entfernt. Solange Lars Gustav Selén existierte, solange existierte auch sein Roman. Das war eine Binsenwahrheit, nichts, was in Frage zu stellen war.
Er gelangte auf die Oxford Street und ging automatisch weiter nach rechts, Richtung Westen. Versuchte, sich an den letzten Gedanken zu klammern. Sie befanden sich irgendwo anders. Irgendwo, vermutlich in einem anderen Restaurant in dieser Zehnmillionenstadt, saß das ganze Sextett und … und wenn es trotz allem eine Art Muster in dem Geschehen gab, dann müssten sie sich jetzt genau mit dem beschäftigen, was der Sinn des Ganzen gewesen war. Oder? Sie hatten einfach nur das Lokal gewechselt!
Er spürte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach, und die Menschen, die ihm auf dem Bürgersteig entgegenkamen, schienen unscharfe Konturen zu haben. Wie viele Restaurants gab es hier in der
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