Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
Gedanken.
Ferdinand, der wieder einmal eine Woche in Berlin verbracht hatte, unterhielt die Gesellschaft mit Klatsch aus der großen Welt. »Stellt euch vor, Bismarck, dieser Baum von einem Mann, bricht immer in Tränen aus, wenn ihm etwas nicht gewährt wird, das ihm am Herzen liegt.«
»Und hat er etwa Erfolg damit?«, fragte Elvira erstaunt. »Kraft zu Hohenlohe sagt, der Kaiser fällt immer wieder darauf herein.«
Man hatte sich auf der Terrasse niedergelassen, um den Mokka zu nehmen, als Kurt, schreckensbleich meldete: »Eine Gräfin Kaulitz wünscht Gräfin Wallerstein zu sprechen.«
Aglaia sah Jesko fragend an. »Haben wir irgendwelche Verwandten, von denen ich nichts weiß?«
Der schüttelte den Kopf. »Soweit mir bekannt, ist Alexander der Letzte aus unserer Linie. Das muss eine Hochstaplerin sein. Oder hast du dich vielleicht verhört, Kurt?«
»Nein, gewiss nicht, Herr Graf.« Er schluckte, als fiele ihm das Sprechen schwer. »Die Dame … sie hat ein kleines Kind dabei.«
»Das wird ja immer besser«, sagte Elvira mit höhnischem Lachen. »Sehen wir uns unsere obskure Namensvetterin doch einmal an.«
Aglaia erhob sich. »Ich lasse bitten, Kurt.« Die junge, zarte Frau trug einen breitrandigen Hut mit Schleier. An der Hand hielt sie ein etwa vier Jahre altes entzückendes Mädchen mit leuchtend roten Locken. Als sie ihren Schleier hob, senkte sich ein fast unheimliches Schweigen über die Gesellschaft. Bis auf Alexander starrten sie alle ungläubig an.
Aglaia klammerte sich an die Lehne ihres Stuhles. Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen. »Mein Gott …«, stammelte sie, »… Tanya?«
»Nein, ich bin Amalie. Tanya war meine Mutter.«
Clemens konnte Aglaia gerade noch auffangen. Als sie wieder zu sich kam, redeten alle durcheinander. Es gab keinen Zweifel, sie musste Tanyas Tochter sein, die Ähnlichkeit war frappant.
»Wir dachten, du seiest tot«. Elvira war außer sich.
»Wie hast du uns, ich meine Wallerstein, überhaupt gefunden?«, fragte Jesko.
Alexander, der keine Ahnung hatte, was hier überhaupt vor sich ging, versuchte Ruhe in die Aufregung zu bringen. »Nun lasst Amalie doch erst einmal Luft holen. Wie soll sie denn all die Fragen auf einmal beantworten? Sie sieht ja schon ganz erschöpft aus.« Er winkte Kurt. »Bring doch den beiden jungen Damen erst einmal eine Erfrischung.«
Amalie sah Alexander dankbar an. ›Was für ein netter junger Mann. Er sieht Ellart ähnlich.‹
»Vielleicht sollten wir uns erst alle einmal bekannt machen«, fuhr Alexander fort. »Die junge Dame weiß ja gar nicht, wer wir sind.«
Als Letzte stellte sich Aglaia vor. »Ich bin Aglaia von Wallerstein. Deine Mutter war meine Schwester. Ihren Tod habe ich nie verwunden. Alexander ist übrigens mein Sohn.«
Lange saß die Familie zusammen und lauschte Amalies Geschichte. »Erst als mein Vater im Sterben lag, gestand er mir, dass ich nicht sein leibliches Kind bin«, begann sie. »Er und meine Mutter konnten keine Kinder bekommen und haben mich aus einem Waisenhaus in Pommern geholt. Ich muss ein sehr zartes Kind gewesen sein. Bis ich drei Jahre alt war, lebten sie in ständiger Angst, ich könnte sterben.«
»Mein Gott, armes Kind«, entfuhr es Aglaia. »Du tust mir unendlich leid.«
Ein Lächeln trat in Amalies Gesicht. »Das ist gar nicht nötig. Meine Adoptiveltern waren die warmherzigsten und liebsten Menschen, die man sich vorstellen kann. Ich hatte eine wunderschöne behütete Kindheit. Nun, kurz bevor mein Vater starb, gab er mir ein Holzkästchen. ›Vielleicht findest du darin deine Wurzeln‹, hat er gesagt. ›Ich habe es nie geöffnet. Du warst der Sonnenschein in unserem Leben.‹« Sie zog zwei Briefe aus ihrer Tasche. Einen davon reichte sie Aglaia. »Diesen Brief hat meine Mutter dir am Tag deiner Hochzeit geschrieben, und dieser«, sie reichte ihn Elvira »hat mich hierhergeführt.«
Elvira schlug die Hände vors Gesicht. »Das ist mein Brief, den ich Tanya vor ihrer Abreise in das Kloster geschrieben habe. Ohne den hättest du uns ja nie gefunden!«
»Doch«, sagte Amalie mit fester Stimme. »Ich bin die Frau von Ellart von Kaulitz aus Ostpreußen, und das hier …«, sie strich dem kleinen Mädchen an ihrer Seite über den Kopf, »… das ist Franziska, unsere Tochter.«
In dieser Nacht fand kaum einer Schlaf. Zu groß war für alle die Aufregung. Immer wieder las Aglaia Tanyas Brief.
Aglaia, meine geliebte Cousine und Schwester meines Herzens,
heute ist Dein großer
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