Himmel über Tasmanien
am lebenden Objekt waren etwa einen halben Meter groß und standen auf hohen, schmalen Glastischen im Raum verteilt. Da war Joe in seinem breitrandigen Hut, den Sattel über der Schulter, den Hund zu seinen Füßen, und hier war Peter, der unter seinem Buschhut in die Sonne blinzelte, ein Kalb über den Schultern, sein langer Mantel reichte fast bis an die Stiefelabsätze. Das größte Stück stand etwas höher.Es war ein Baumstamm, dessen Rinde sich abschälte und herabhing wie Papier. Davor saß ein kleines Felskänguru, das sich eifrig die Schnauze putzte, die Ohren wachsam aufgestellt.
Lulu schlenderte weiter, bis sie zu dem Kind kam. Es saß neben einem Eimer und einem Spaten, hielt sich mit der winzigen, sternengleichen Hand eine Muschel ans Ohr, die Augen verwundert und neugierig aufgerissen, während es dem Gesang des Meeres lauschte. Ihr Lieblingsstück war jedoch das Fohlen, entnommen den Zeichnungen, die sie an dem Abend in Hobart angefertigt hatte, als Joe sie zum ersten Mal geküsst hatte.
Das richtig hinzubekommen war ihr am schwersten gefallen, und sie hatte es erst am Tag zuvor fertiggestellt, aber es rief derart traurige Erinnerungen hervor, dass ihr beinahe die Tränen kamen. Ohne Clarice und Joe an ihrer Seite erschien alles ziemlich sinnlos.
»Mir gefällt das Kind mit der Muschel. Vermutlich sollst du das sein?«
Sie drehte sich um und schnappte überrascht und erfreut nach Luft. »Dolly«, rief sie. »Du hast mir nicht gesagt, dass du kommen würdest.«
»Das hätte ich mir um nichts in der Welt entgehen lassen, Schätzchen«, flüsterte sie, als sie sich umarmten. Sie trug eine ausgefallene Kreation aus Seide und Spitze, die der Phantasie nur wenig Raum ließ, aber ihre Augen strahlten, ihr Gesicht strotzte vor Gesundheit. »Eine wunderbare Ausstellung. Ich erkenne Joe und Peter, du bist so begabt – und das Fohlen liebe ich einfach. Darf ich dir Jasper Harding vorstellen?«
Lächelnd schüttelte Lulu ihm die Hand. Jasper sah auf seine robuste, ländliche Art gut aus, sein Akzent zeugte von einer Privatschule, sein Anzug von der Savile Row in Mayfair. Sein Aussehen gefiel ihr, und nach dem Funkeln in Dollys Augen zu schließen, ging es ihr genauso. Sie unterhielten sicheine Weile, dann schlenderte Jasper zu Bertie und Sybilla hinüber.
»Was meinst du?«, fragte Dolly atemlos. »Er hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will, und ich denke ernsthaft darüber nach.«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Lulu, »aber meinst du nicht, das ist etwas übereilt?«
Dolly lächelte verlegen, sie wurde rot. »Man weiß, wann es der Richtige ist, vom ersten Augenblick, in dem man sich begegnet.«
Lulu grinste entzückt. »Wenn du es sagst.«
»Oh, Schätzchen, aber ich weiß es.« Sie riss die Augen weit auf. »Und deshalb musst du zurück zu Joe. Du bist offensichtlich in ihn verliebt, warum also noch hier herumhängen?«
»Ich habe eine Ausstellung, oder ist dir das entgangen?«
Dolly tat den Einwand mit einer Handbewegung ab. »Du musst nicht hier sein, und Joe wird nicht ewig warten, Lulu.«
Genau dasselbe hatte Clarice auch gesagt, und Traurigkeit überkam sie.
»Hör zu, Schätzchen«, ihre beringten Finger schlossen sich um Lulus Handgelenk, »ich weiß, das Jahr war grauenhaft , nach Clarice und allem, aber willst du ernsthaft in dem riesigen Haus herumgeistern und dich für den Rest deines Lebens in deine Arbeit vergraben ?«
Sie machte eine Pause und zog kurz an ihrer Zigarette. »Du kannst überall arbeiten, und wenn Sybilla und Bertie sich um dich kümmern, wirst du feststellen, dass deine Karriere voranschreitet, egal , wo du lebst.« Sie zog die Zobelstola über die schlanke Schulter und wedelte mit ihrer Zigarettenspitze aus Elfenbein, um ihren Standpunkt zu unterstreichen. »Sybilla lebt in Brisbane, Schätzchen – wie weit ist das von jeglicher Zivilisation entfernt, um Himmels willen –, und das hat ihrer Karriere nicht im Geringsten geschadet, oder? Tasmanien magzwar am unteren Ende der Welt liegen, aber Kunst ist weltumfassend «, schloss sie mit einer überschwänglichen Geste.
Lulu hatte eigentlich nicht viel über ihre Zukunft nachgedacht, seitdem Clarice von ihr gegangen war, und sich tatsächlich in ihre Arbeit gestürzt, da sie in den vergangenen Monaten nicht imstande gewesen war, ernsthafte Entscheidungen zu treffen. Das Haus war auf jeden Fall zu groß für sie, aber sie wollte es nur ungern verlassen, denn es enthielt Clarice’ Geist, war viele Generationen
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