Himmel über Tasmanien
Lulu sie an. »Sprich leise, um Himmels willen.« Sie führte sie außer Hörweite der offensichtlich neugierigen Menge. »Hier funktioniert das Klassensystem nicht so«, sagte sie rundweg. »Und wenn du solche Bemerkungen fallen lässt, bekommst du Ärger.«
Dolly riss die Augen weit auf. »Ich habe nur …«
Lulu nahm ihre Hand und bedauerte ihren Wutanfall. »Ich weiß, es ist schwer, aber du wirst es bald kapieren, wenn du einfach ruhig bleibst und beobachtest, wie es geht. Ich musste dieselbe Lektion lernen, als ich nach England kam, und wenn ich es kann, dann kannst du es auch.«
»Ich werde es versuchen«, sagte Dolly zögernd, »aber mir erscheint alles so entsetzlich unorganisiert.« Sie entfernte sich, um ihre Gepäckstücke zu zählen und sicherzustellen, dass alles da war und keinen Schaden genommen hatte.
Lulu nutzte die Gelegenheit und betrachtete Joe eingehend, während er alles auf die Ladefläche des Geländewagens stellte. Die Narben waren grausam, aber sie hatte schon Schlimmeres gesehen, und sie lenkten nicht von seinen dunkelbraunen Augen, der geraden Nase und der starken Kinnpartie ab. Seine langen Beine steckten in einer Baumwollhose, das Karohemd stand gerade so weit offen, dass man einen flüchtigen Blick auf eine muskulöse Brust erhaschen konnte. Flache Lederstiefel und der allgegenwärtige, breitrandige Hut vervollständigten die Ausstattung. Sie hielt ihn für etwa dreißig mit der drahtigen Kraft und der gebräunten Haut eines Mannes, der an körperliche Arbeit bei jedem Wetter gewöhnt ist.
Als wäre er sich ihrer forschenden Augen bewusst, drehte er den Kopf, und ihre Blicke begegneten sich. Er schaute sie ruhig, beinahe herausfordernd an, bevor er das Kinn senkte und fortfuhr, Dollys Gepäck aufzuladen.
Kichernd stieß Dolly sie an. »Ich glaube fast, er hat ein bisschen Gefallen an dir gefunden, Lulu, und ich muss schon sagen, dass er die Kerle in London weit in den Schatten stellt.«
»Sei nicht albern«, fuhr Lulu sie an, verärgert, dass Dolly ihre eigenen Gedanken ausgesprochen hatte. »Gute Güte, Dolly, muss denn mit jedem Mann, den wir kennenlernen, geschäkert werden?« Sie wartete nicht auf eine Antwort und ging zum Geländewagen. Joe sah jedenfalls gut und sehr maskulin aus – Welten entfernt von den reichen Schnöseln der Londoner feinen Gesellschaft –, aber sie würde es nie zugeben, schon gar nicht Dolly gegenüber.
Joe hielt die Wagentür auf, denn er hatte es offensichtlich eilig, abzufahren, doch als sie näher kamen, wirkte er zerstreut, sein Blick flatterte ständig ans Ende des Kais.
Lulu warf einen Blick über ihre Schulter, neugierig, was seine Aufmerksamkeit erregte.
Der Geländewagen schien wie aus dem Nichts zu kommen. Er donnerte mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu, die Reifen kreischten auf dem Asphalt.
»Passen Sie auf!«, schrie Joe.
Lulu lief auf ihn zu.
Der Geländewagen geriet ins Schwanken, schaukelte auf seinem Fahrgestell, während die Reifen einen Hagel aus Staub und Kies aufwarfen. Er hatte es auf sie abgesehen – verfolgte ihre Bewegungen und wurde noch schneller.
Lulu wich dem Wagen knapp aus, der Kotflügel verfehlte ihr Bein um Zentimeter. Sie stolperte und wäre beinahe gestürzt, ihr Schreckensschrei wurde vom dröhnenden Motor übertönt, als sie sich in den Schutz eines Viehtransporters in ihrer Nähe warf.
Der Geländewagen wurde heftig herumgerissen, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Der Gestank nach verbranntem Gummi und eine erstickende Staubwolke hingen in derLuft, als der Wagen schleuderte und die kreischenden Räder nach Halt suchten.
Lulu kauerte hinter dem stabilen Viehtransporter, geblendet, mit rasendem Herzen, zu erschrocken, um auch nur zu schreien.
Mit quietschenden Reifen schoss der Geländewagen vom Kai und war nach wütendem Hupen verschwunden.
Lulu lag im Schmutz. Ihr Herz hämmerte, und sie bekam kaum noch Luft.
»Verflixt«, murmelte Joe und lief zu ihr. »Ist alles in Ordnung? Hat sie Sie erwischt? Sind Sie verletzt?«
Lulu blinzelte unter Tränen und schaute durch die sich allmählich auflösende Staubwolke zu ihm auf. »Ich … ich …«
»Was ist? Wo sind Sie verletzt?« Sein kräftiger Arm umschlang ihre Taille mit erstaunlicher Behutsamkeit.
»Helfen Sie mir auf«, keuchte sie. »Ich bekomme keine Luft.« Seine starken Hände zogen sie auf die Beine und hielten sie fest, als sie sich nach gebrochenen Knochen abtastete. Sie hatte Schürfwunden an den Knien, und ihre Hose war zerrissen,
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