Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
ihm das Schlucken zu erleichtern, und manchmal vergingen Tage ohne Schwierigkeiten dieser Art.
Nina hatte sich nach einem Rollstuhl umgetan, Er hatte sich nicht dagegen gewehrt. Sie redeten nicht mehr über das, was sie die Große Stilllegung nannten. Nina hatte sich sogar gefragt, ob sie beide – oder er – vielleicht in eine Phase eintraten, von der sie gelesen hatte, eine Veränderung, die Menschen manchmal in der Mitte einer tödlichen Krankheit überkam. Ein gewisses Maß an Optimismus, der sich vorkämpfte, nicht, weil er gerechtfertigt war, sondern weil das ganze Erlebnis zu Wirklichkeit geworden und keine abstrakte Vorstellung mehr war, weil die Maßnahmen, um damit zurande zu kommen, kein lästiges Ärgernis mehr waren, sondern Gewohnheit.
Das Ende ist noch nicht da. Lebe für die Gegenwart. Pflücke den Tag.
Solch eine Entwicklung passte eigentlich nicht zu Lewis. Nina hatte ihn immer für unfähig gehalten, sich selbst etwas vorzumachen, und sei der Selbstbetrug noch so nützlich. Aber sie hatte sich bei ihm auch nie einen derartigen körperlichen Verfall vorstellen können. Und da jetzt eines der unwahrscheinlichen Dinge eingetreten war, warum dann nicht auch andere? War es nicht möglich, dass die Veränderungen, die anderen Menschen widerfuhren, auch ihn ergriffen? Die heimlichen Hoffnungen, das Nichtwahrhabenwollen, die listigen Tauschgeschäfte?
Nein.
Sie holte das Telefonbuch aus dem Nachttisch und sah unter »Leichenbestatter« nach, ein Wort, das es natürlich nicht gab. »Bestattungsberater«. Ihr Ärger darüber fiel in eine Kategorie, die sie für gewöhnlich mit ihm teilte. Leichenbestatter, was zum Donnerwetter war nicht in Ordnung mit Leichenbestatter? Sie drehte sich zu ihm um und sah, wie sie ihn liegen gelassen hatte, hilflos entblößt. Bevor sie die Nummer wählte, deckte sie ihn wieder zu.
Die Stimme eines jungen Mannes fragte sie, ob der Arzt da sei, ist der Arzt schon da gewesen?
»Er hat keinen Arzt gebraucht. Als ich nach Hause kam, habe ich ihn tot vorgefunden.«
»Wann war denn das?«
»Ich weiß nicht – vor zwanzig Minuten.«
»Als sie ihn vorfanden, war er also schon entschlafen? Wer ist denn Ihr Arzt? Ich rufe ihn an und schicke ihn vorbei.«
In ihren sachlichen Gesprächen über den Selbstmord hatten sie, soweit Nina sich daran erinnerte, nie darüber geredet, ob die Tatsache verheimlicht oder bekannt gegeben werden sollte. Einerseits, da war sie sicher, hätte Lewis gewollt, dass es bekannt wurde. Alle sollten wissen, dass das seine Vorstellung von einer ehrenhaften und vernünftigen Art war, mit der Lage, in der er sich befunden hatte, umzugehen. Aber andererseits hätte er vielleicht Verschwiegenheit vorgezogen. Niemand sollte denken, das sei nun die Folge vom Verlust seiner Stellung, von seinem verlorenen Streit mit der Schule. Irgendein Gerede, er habe vor dem Hintergrund dieser Niederlage die Waffen gestreckt, hätte ihn rasend gemacht.
Sie sammelte die Tablettenhülsen auf dem Nachttisch ein, volle wie leere, und spülte sie in der Toilette weg.
Die Leute des Leichenbestatters waren kräftige Burschen aus der Gegend, ehemalige Schüler, ein bisschen verlegener, als sie zeigen mochten. Der Arzt war auch jung und ihr fremd – der Hausarzt von Lewis machte gerade Urlaub in Griechenland.
»Also ein Segen«, sagte der Arzt, nachdem er die Krankengeschichte erfahren hatte. Sie war ein wenig überrascht, ihn das so offen aussprechen zu hören, und dachte, dass Lewis, hätte er es hören können, vielleicht einen unwillkommenen Hauch von Frömmigkeit gewittert hätte. Was der Arzt gleich danach sagte, war weniger überraschend.
»Möchten Sie mit jemandem reden? Wir haben Betreuer, die Ihnen bei so etwas, ich meine, die Ihnen helfen können, mit Ihren Gefühlen umzugehen.«
»Nein, nein. Vielen Dank, ich komme schon klar.«
»Wohnen Sie hier schon lange? Haben Sie Freunde, die für Sie da sind?«
»Oja. Sicher.«
»Werden Sie gleich jemanden anrufen?«
»Ja«, sagte Nina. Sie log. Sobald der Arzt und die jungen Leichenträger und Lewis das Haus verlassen hatten – Lewis getragen wie ein Möbelstück, eingewickelt, damit es nicht beschädigt wurde –, musste sie sich wieder auf die Suche machen. Es war dumm von ihr gewesen, nur im Bett und darum herum zu suchen. Sie ging die Taschen ihres Morgenmantels durch, der an der Schlafzimmertür hing. Eine ausgezeichnete Stelle, denn das war ein Kleidungsstück, das sie jeden Morgen anlegte, bevor sie
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