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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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ganzen Geschäft gekauft. Den teuersten, weil Seide leicht war und gleichzeitig wärmte und weil sie bei allen anderen Schlafanzügen, die sie sah – mit ihren Streifen und ihren drolligen oder unanständigen Botschaften –, an alte Männer denken musste oder an Ehemänner aus Comics, gescheiterte Pantoffelhelden. Da die Bettwäsche fast dieselbe Farbe hatte, sah sie nur wenig von ihm. Füße, Fußknöchel, Schienbeine, Hände, Handgelenke, Hals, Kopf. Er lag auf der Seite, das Gesicht von ihr abgewandt. In Gedanken ganz auf den Brief aus, griff sie nach dem Kissen, zog es ihm grob unter dem Kopf weg.
    Nein. Nein.
    Bei der Verlagerung vom Kissen auf die Matratze gab der Kopf ein Geräusch von sich, schwerer, als sie erwartet hatte. Und dieses Geräusch schien ihr, ebenso wie die leere Fläche des Lakens, sagen zu wollen, dass die Suche vergeblich war.
    Die Tabletten mussten ihn in Schlaf versetzt und ihm seine Funktionen heimlich genommen haben, so dass kein toter Blick, keine Verzerrung da war. Sein Mund stand ein wenig offen, war aber trocken. Die letzten beiden Monate hatten ihn stark verändert – wie stark, das sah sie erst jetzt. Wenn seine Augen offen gewesen waren und sogar, wenn er schlief, hatte irgendeine Anstrengung von ihm die Illusion aufrechterhalten, dass der Schaden nur vorübergehend war – dass das Gesicht eines vitalen, immer latent aggressiven, zweiundsechzig Jahre alten Mannes immer noch da war, unter den Falten der bläulichen Haut, der steinernen Schlaflosigkeit der Krankheit. Es war nicht der Knochenbau, der seinem Gesicht den grimmigen und lebhaften Charakter gegeben hatte – alles kam von den tief liegenden, strahlenden Augen und dem beweglichen Mund und dem wandlungsfähigen Mienenspiel, den rasch wechselnden Konstellationen der Falten, sie alle trugen bei zu seinem Repertoire von Spott, Skepsis, ironischer Geduld und gequältem Abscheu. Ein Klassenzimmer-Repertoire – und nicht immer darauf beschränkt.
    Vorbei. Vorbei. Jetzt, ein oder zwei Stunden nach Eintritt des Todes (denn er musste sich gleich nach ihrem Aufbruch darangemacht haben, um nicht zu riskieren, dass er bei ihrer Rückkehr noch nicht damit fertig war), jetzt war deutlich, dass die Auszehrung und der Verfall obsiegt hatten. Sein Gesicht war tief eingesunken, verschlossen, fern, gealtert und kindlich – vielleicht wie das Gesicht eines tot geborenen Säuglings.
    Die Krankheit kannte drei Arten des Ausbruchs. Eine betraf die Hände und Arme. Die Finger wurden taub und fühllos, ihr Griff ungeschickt und dann unmöglich. Oder es konnten die Beine sein, die als erste schwach wurden, und die Füße, die anfingen zu stolpern und sich bald nicht mehr auf Stufen oder sogar über Teppichkanten heben ließen. Der dritte und wohl schlimmste Angriff erfolgte auf den Kehlkopf und die Zunge. Das Schlucken wurde unzuverlässig, angstbesetzt, ein Erstickungsdrama, und die Sprache verwandelte sich in einen verstopften Fluss drängender Silben. Befallen waren immer nur die willkürlichen Muskeln, und anfangs hatte sich das nach dem geringeren Übel angehört. Keine Fehlzündungen im Herzen oder im Gehirn, keine fehlgeleiteten Signale, keine bösartigen Veränderungen der Persönlichkeit. Sehen und Hören und Riechen und Fühlen und vor allem der Verstand so lebendig und kräftig wie eh und je. Das Gehirn überwachte permanent alle Stillegungen der Randbezirke, addierte geschäftig die Schäden und Ausfälle. War das nicht weitaus vorzuziehen?
    Natürlich, hatte Lewis gesagt. Aber nur, weil es einem die Möglichkeit gab, selbst einzugreifen.
    Seine eigenen Schwierigkeiten hatten bei den Muskeln seiner Beine begonnen. Er hatte an einem Fitnesskurs für Senioren teilgenommen (obwohl ihm so etwas eigentlich verhasst war), mit dem Vorsatz, die Kraft wieder hineinzuzwingen. Ein oder zwei Wochen lang, so meinte er, wirkte es auch. Aber dann kamen die bleiernen Füße, das Schlurfen und Stolpern, und bald danach die Diagnose. Sobald die feststand, hatten sie darüber geredet, was zu tun war, wenn die Zeit kam. Im Frühsommer lief er noch an zwei Krücken. Im Spätsommer lief er überhaupt nicht mehr. Aber seine Hände konnten immer noch die Seiten eines Buches umwenden oder mit Mühe eine Gabel oder einen Löffel oder einen Stift regieren. Seine Sprache kam Nina fast unbeeinträchtigt vor, obwohl Besucher damit Probleme hatten. Er hatte dann ohnehin entschieden, keinen Besuch mehr zuzulassen. Seine Ernährung war umgestellt worden, um

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