Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
sich beeilte, Kaffee zu kochen, und sie fahndete in den Taschen immer nach einem Kleenex, einem Lippenstift. Abgesehen davon, dass Lewis dafür hätte aus dem Bett aufstehen und das Zimmer durchqueren müssen – er, der schon seit einigen Wochen nicht mehr fähig gewesen war, auch nur einen Schritt ohne ihre Hilfe zu tun.
Aber warum musste der Brief gestern geschrieben und hingelegt worden sein? Wäre es nicht sinnvoller gewesen, ihn schon vor Wochen zu verfassen und zu verstecken, zumal er nicht wusste, in welchem Tempo sich seine Handschrift verschlechtern würde? Und wenn das zutraf, konnte der Brief überall sein. In den Schubladen ihres Schreibtischs – in denen sie jetzt stöberte. Oder unter der Flasche Champagner, die sie gekauft hatte, um sie an seinem Geburtstag zu trinken, und auf die Kommode gestellt hatte, um ihn an dieses Datum in zwei Wochen zu erinnern – oder zwischen den Seiten jedes der Bücher, die sie zurzeit las. Er hatte sie sogar erst vor kurzem gefragt: »Was liest du jetzt für dich?« Er meinte, abgesehen von dem Buch, das sie ihm vorlas –
Friedrich der Große
von Nancy Mitford. Sie zog es vor, ihm unterhaltsame historische Werke vorzulesen – zu Romanen konnte er sich nicht verstehen –, und überließ ihm die naturwissenschaftlichen Bücher zur eigenen Lektüre. Sie hatte geantwortet: »Ach, nur japanische Erzählungen«, und das Buch hochgehalten. Jetzt warf sie etliche Bücher beiseite, um dieses eine zu finden, es verkehrt herum hochzuhalten und die Seiten auszuschütteln. Jedes beiseite getane Buch erhielt dann dieselbe Behandlung. Kissen auf dem Sessel, in dem sie meistens saß, flogen auf den Boden, weil sie nachsehen wollte, was dahinter war. Schließlich wurden alle Kissen auf dem Sofa ebenso verstreut. Die Kaffeebohnen wurden aus ihrer Dose geschüttet, falls er dort (aus einer Laune heraus?) einen Abschiedsgruß versteckt hatte.
Sie wollte niemanden bei sich haben, keinen Beobachter dieser Suche – die sie jedoch bei offénen Vorhängen und hell brennendem Licht durchführte. Keinen, sie daran zu erinnern, dass sie sich zusammenreißen musste. Es war schon seit einiger Zeit dunkel, und sie merkte, dass sie etwas essen müsste. Sie hätte Margaret anrufen können. Aber sie tat nichts. Sie stand auf, um die Vorhänge zuzuziehen, doch stattdessen knipste sie überall das Licht aus.
Nina war etwas über eins achtzig groß. Sie ging schon auf die zwanzig zu, als Sportlehrer, Studienberater und besorgte Freundinnen ihrer Mutter sie drängten, etwas gegen ihren krummen Rücken zu tun. Sie gab sich große Mühe, aber noch heute, wenn sie alte Fotos von sich betrachtete, sah sie mit Verärgerung, wie klein sie sich gemacht hatte – die Schultern zusammengezogen, der Kopf zur Seite geneigt, ihre ganze Haltung die einer lächelnden Dienerin. Als sie jung war, hatte sie sich daran gewöhnt, von Freundinnen zu Verabredungen mitgenommen und mit hoch gewachsenen Männern zusammengebracht zu werden. Wie es schien, war alles andere an dem Mann ziemlich egal – wenn er nur weit über eins achtzig groß war, musste er mit: Nina verkuppelt werden. Sehr oft war der Betreffende deswegen muffig – schließlich hatte er als hoch gewachsener Mann die freie Wahl –, und Nina, immer noch krumm und lächelnd, versank vor Verlegenheit.
Ihre Eltern wenigstens verhielten sich, als sei ihr Leben ihre eigene Angelegenheit. Beide waren Ärzte und lebten in einer Kleinstadt in Michigan. Nina zog wieder zu ihnen, nachdem sie mit dem College fertig war. Sie unterrichtete an der örtlichen High School Latein. In den Ferien fuhr sie nach Europa, mit den College-Freundinnen, die noch nicht abgesahnt worden waren, um zu heiraten, und wahrscheinlich auch nicht dafür in Frage kamen. Beim Wandern in den Cairngorms stießen sie auf eine Gruppe von Australiern und Neuseeländern, temporären Hippies mit Lewis als Bergführer. Er war ein paar Jahre älter als die anderen, weniger ein Hippie als ein erfahrener Wanderer und sicherlich derjenige, an den man sich bei Streitereien und Schwierigkeiten wenden konnte. Er war nicht besonders groß – acht oder zehn Zentimeter kleiner als Nina. Trotzdem fühlte er sich zu ihr hingezogen und überredete sie, ihre Reiseroute zu ändern und mit ihm fortzugehen – er seinerseits überließ seine Gruppe fröhlich sich selbst.
Wie sich herausstellte, hatte er vom Wandern die Nase voll und außerdem einen Hochschulabschluss in Biologie und ein
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