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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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sie an jenem Nachmittag nach Hause fuhr.
    Nina sagte: »Geht so.«
    Die Sonne stand schon tief, senkte sich zum Seeufer. Manche Bäume, die noch ihr Laub hatten, waren goldene Fackeln, aber die Sommerwärme des Nachmittags hatte sich schlagartig verzogen. Die Sträucher vor Margarets Haus waren alle in wärmendes Sackleinen gehüllt wie Mumien.
    Dieser Augenblick des Tages erinnerte Nina an die Spaziergänge, die sie mit Lewis immer nach der Schule und vor dem Abendbrot gemacht hatte. Kurze Spaziergänge, da es schon früh dunkelte, auf Feldwegen und alten Bahndämmen. Aber alle angereichert mit dieser besonderen Beobachtung, ob ausgesprochen oder nicht, die sie von Lewis gelernt oder übernommen hatte. Käfer, Raupen, Schnecken, Moose, Röhricht im Graben und Schopftintlinge im Gras, Tierfährten, Schlingenbeeren, Kranbeeren – eine vielfältige Mischung, jeden Tag ein wenig anders zubereitet. Und jeder Tag ein weiterer Schritt zum Winter hin, eine zunehmende Kargheit, ein Welken und Vergehen.
    Das Haus, in dem Nina und Lewis wohnten, war in den Jahren um 1840 gebaut worden, nah am Bürgersteig im Stil jener Zeit. Wenn man sich im Wohnzimmer oder im Esszimmer aufhielt, konnte man nicht nur die Schritte, sondern auch die Gespräche der Passanten hören. Nina rechnete damit, dass Lewis das Zuschlagen der Autotür gehört hatte.
    Sie ging ins Haus und pfiff Händel, so gut sie konnte.
Sieh, es kommt der siegreiche Held.
    »Ich hab gewonnen. Ich hab gewonnen. Wo bist du?«
     
    Aber während ihrer Abwesenheit war Lewis gestorben. Er hatte sich nämlich umgebracht. Auf dem Nachttisch lagen vier kleine Plastikhülsen mit Folie auf der Unterseite. Jede hatte zwei Kapseln eines starken Schmerzmittels enthalten. Zwei weitere lagen unversehrt daneben, die weißen Kapseln füllten noch immer die Plastikblasen. Als Nina sie später in die Hand nahm, sah sie, dass die Folie der einen eingekerbt war, als hätte er versucht, sie mit dem Fingernagel zu öffnen, und es dann aufgegeben, sei es, weil er entschieden hatte, es reichte, sei es, weil er in dem Augenblick das Bewusstsein verloren hatte.
    Sein Wasserglas war fast leer. Kein Tropfen verschüttet.
    Sie hatten darüber geredet, sich auf diesen Plan geeinigt, aber immer als etwas, das erst in Zukunft auf sie zukommen konnte oder zukommen würde. Nina hatte angenommen, sie würde dabei sein und es würde gewisse feierliche Attribute geben. Musik. Die Kissen aufgeschüttelt und ein Stuhl herangerückt, damit sie seine Hand halten konnte. Zwei Dinge hatte sie nicht bedacht – seine extreme Abneigung gegen Feierlichkeit in jeglicher Form und die Last, die eine solche Teilnahme ihr aufgebürdet hätte. Die Fragen an sie, die Gerüchte über sie, die Strafverfolgung wegen Beihilfe.
    Auf diese Weise hatte er ihr so wenig wie möglich überlassen, das es wert war, vertuscht zu werden.
    Sie sah sich nach einem Abschiedsbrief um. Was, dachte sie, würde darin stehen? Sie brauchte keine Anweisungen. Sie brauchte auch keine Erklärung, geschweige denn eine Entschuldigung. Ein Abschiedsbrief konnte ihr nichts sagen, was sie nicht schon wusste. Sogar die Frage Warum so früh? war eine, die sie sich selbst beantworten konnte. Sie hatten – oder er hatte – über die Schwelle geredet, ab der die Hilflosigkeit oder die Schmerzen oder der Ekel vor sich selbst unerträglich wurden, und wie wichtig es war, diese Schwelle zu erkennen und nicht darüber hinwegzugleiten. Eher früher als später.
    Trotzdem hielt sie es für unmöglich, dass er ihr nicht noch etwas zu sagen gehabt hatte. Sie suchte zuerst auf dem Fußboden, da sie dachte, er konnte das Blatt Papier mit dem Schlafanzugärmel vom Nachttisch gewischt haben, als er das Wasserglas zum letzten Mal abstellte. Oder er konnte besonders darauf geachtet haben, das nicht zu tun – sie sah unter dem Fuß der Nachttischlampe nach. Dann in der Nachttischschublade. Dann unter und in seinen Pantoffeln. Sie schüttelte das Buch aus, das er als Letztes gelesen hatte, ein paläontologisches Fachbuch über das, was – soweit sie wusste – die kambrische Explosion vielzelliger Lebensformen genannt wurde.
    Nichts.
    Sie durchsuchte das Bettzeug. Sie deckte die Steppdecke auf, dann das Betttuch. Da lag er, in dem dunkelblauen seidenen Schlafanzug, den sie ihm vor ein paar Wochen gekauft hatte. Er hatte darüber geklagt, zu frieren – er, der nie zuvor im Bett gefroren hatte, also war sie losgegangen und hatte den teuersten Schlafanzug im

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