Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
womöglich für Wunschdenken und törichte Übertreibung gehalten hätte. Aber manchmal, besonders, wenn sie einen Schwips hatte, fand sie genau wie Brendan die Vorstellung, sie könnte so rundum begehrenswert sein, erregend. In Lionels Fall war sie sich jedoch ziemlich sicher, dass es nicht zutraf, und sie hoffte sehr, dass Brendan so etwas nie in seiner Gegenwart andeuten würde. Sie erinnerte sich an den Blick, den er ihr über den Kopf seiner Mutter hinweg zugeworfen hatte. Eine Richtigstellung lag darin, eine sanfte Warnung.
Sie erzählte Brendan nichts von den Gedichten. Etwa einmal pro Woche traf mit der Post ein Gedicht ein, ganz ordentlich in einem frankierten Briefumschlag. Sie waren nicht anonym – Lionel unterschrieb sie. Seine Unterschrift war allerdings nur ein schwer zu entziffernder Krakel – aber das waren auch alle Wörter in den Gedichten. Zum Glück gab es davon nie viele – manchmal im Ganzen nur etwa ein Dutzend –, und sie zogen sich als sonderbare Fährte über das Blatt Papier, wie von einem ängstlichen Vogel hinterlassen. Auf den ersten Blick vermochte Lorna nichts davon zu lesen. Sie fand heraus, dass es am besten war, sich nicht allzu große Mühe zu geben, sondern einfach den Bogen vor sich zu halten und lange unverwandt zu betrachten, gleichsam wie in Trance. Dann begannen Wörter zu erscheinen. Keineswegs alle – es gab in jedem Gedicht zwei oder drei, die sie nie entzifferte –, aber darauf kam es nicht an. Es gab keine Zeichensetzung, nur Gedankenstriche. Und die Wörter waren meistens Hauptwörter. Lorna war keine Frau, der Gedichte fremd waren oder die bald aufgab, wenn sie etwas nicht gleich verstand. Aber ihre Einstellung zu Lionels Gedichten war ungefähr so wie beispielsweise die zum Buddhismus – dass sie eine Quelle der Inspiration waren, die sich ihr vielleicht in Zukunft erschließen könnte, im Moment jedoch leider nicht.
Nach dem ersten Gedicht quälte sie sich damit herum, was sie ihm sagen sollte. Etwas Anerkennendes, aber nicht allzu Dummes. Alles, was sie herausbrachte, war: »Danke für das Gedicht« – als Brendan weit außer Hörweite war. Sie verkniff sich zu sagen: »Es hat mir gefallen.« Lionel nickte nur kurz und gab ein Geräusch von sich, mit dem das Thema beendet war. Die Gedichte trafen weiterhin ein und wurden nicht mehr erwähnt. Ihr kam der Gedanke, sie als Gaben zu betrachten, nicht als Botschaften. Aber keine Liebesgaben – wie Brendan zum Beispiel angenommen hätte. Sie enthielten nichts über Lionels Gefühle für sie, überhaupt nichts Persönliches. Sie erinnerten sie an die schwachen Abdrücke, die man im Frühling manchmal auf den Bürgersteigen sehen kann – Schatten, hinterlassen von nassen Blättern, die im Vorjahr dorthin gefallen sind.
Es gab noch etwas anderes, Dringenderes, über das sie nicht mit Brendan redete. Auch nicht mit Lionel. Sie sagte nicht, dass Polly zu Besuch kam. Ihre Kusine Polly kam von zu Hause.
Polly war fünf Jahre älter als Lorna und hatte seit ihrem High-School-Abschluss bei der örtlichen Bank gearbeitet. Sie hatte schon einmal genug Geld für diese Reise zusammengespart, dann aber beschlossen, es stattdessen für eine Senkgrubenpumpe auszugeben. Jetzt jedoch war sie quer durchs Land im Bus unterwegs. Ihr kam es wie das Natürlichste und Selbstverständlichste vor – ihre Kusine und deren Mann und deren Familie zu besuchen. Für Brendan würde es nahezu sicher eine aufdringliche Störung sein, etwas, wozu niemand das Recht hatte, es sei denn, er war eingeladen. Er hatte nichts gegen Gäste – siehe Lionel –, aber er wollte sie selbst aussuchen. Jeden Tag dachte Lorna daran, dass sie es ihm sagen musste. Und jeden Tag verschob sie es.
Außerdem war es nichts, worüber sie mit Lionel reden konnte. Man konnte mit ihm über nichts reden, was ein ernstes Problem darstellte. Von Problemen zu reden bedeutete, nach Lösungen zu suchen, darauf zu hoffen. Und das war nicht interessant, zeigte keine interessante Haltung gegenüber dem Leben. Sondern vielmehr eine seichte und fade Zuversicht. Normale Ängste, unkomplizierte Gefühle waren nicht das, was er gern hörte. Er bevorzugte zutiefst Bestürzendes und Unerträgliches, das jedoch mit Ironie und sogar Fröhlichkeit erduldet wurde.
Eines, was sie ihm erzählte, hätte riskant sein können. Sie erzählte ihm, dass sie an ihrem Hochzeitstag und sogar während der Trauung geweint hatte. Aber es gelang ihr, daraus einen Witz zu machen, denn
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