Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
Brendan manchmal Lorna halten musste, weil wieder Spielzeug auf dem Rasen liegen geblieben und nicht in den Sandkasten geräumt worden war, der Ruf aus der Küche, ob sie daran gedacht hatte, Limonen für den Gin Tonic zu besorgen – sie alle lösten in Lionels hochgeschossenem, schmalen Körper und auf seinem hellwachen, misstrauischen Gesicht ein Schaudern, ein Zusammenzucken aus. Dann musste eine Pause eingelegt werden, eine Rückbesinnung auf die Ebene lohnender menschlicher Begegnungen. Einmal sang er ganz leise zur Melodie von »O Tannenbaum« »
O Ehelos, o Ehelos«.
Er lächelte ein wenig, oder so kam es Lorna im Dunkeln vor. Dieses Lächeln war für sie wie das Lächeln ihrer vierjährigen Tochter Elizabeth, wenn sie ihrer Mutter an einem öffentlichen Ort etwas ein wenig Ungehöriges zugeflüstert hatte. Ein verstohlenes Lächeln, nicht ohne Genugtuung, auch ein bisschen ängstlich.
Lionel fuhr auf seinem hohen altmodischen Fahrrad den Hügel hinauf – zu einer Zeit, als kaum jemand außer Kindern Fahrrad fuhr. Er hatte unweigerlich noch seine Bürokleidung an. Eine dunkle Hose, ein weißes Hemd, das an Manschetten und Kragen immer schmuddelig und abgetragen aussah, und einen unscheinbaren Schlips. Als sie ausgegangen waren, um die Comédie Française zu sehen, hatte er dem ein Tweedjackett hinzugefügt, das um die Schultern zu breit und an den Armen zu kurz war. Vielleicht besaß er keine andere Kleidung.
»Ich schinde mich ab für einen Hungerlohn«, sagte er. »Und nicht einmal in den Weinbergen des Herrn. In der Diözese des Erzbischofs.«
Und: »Manchmal meine ich, in einem Roman von Dickens zu sein. Und das Komische daran ist, ich mache mir gar nichts aus Dickens.«
Beim Sprechen neigte er meistens den Kopf zur Seite, und sein Blick verweilte auf etwas dicht über Lornas Kopf. Seine Stimme war hell und flink, manchmal kickste sie vor nervösem Überschwang. Er erzählte alles ein wenig erstaunt. Er erzählte von dem Büro, in dem er arbeitete, im Haus hinter der Kathedrale. Die schmalen, hohen gotischen Fenster und das viele lackierte Holz (damit man sich wie in der Kirche fühlte), die Hutablage und der Schirmständer (der ihn aus irgendeinem Grunde mit tiefer Melancholie erfüllte), die Stenotypistin Janine und die Redakteurin der Kirchennachrichten, Mrs Penfound. Der gelegentliche geisterhafte Auftritt des zerstreuten Erzbischofs. Es gab einen noch nicht entschiedenen Krieg um Teebeutel zwischen Janine, die dafür war, und Mrs Penfound, die dagegen war. Alle verdrückten heimlich Süßigkeiten und teilten nie. Bei Janine waren es Sahnebonbons, Lionel selbst bevorzugte kandierte Mandeln. Was Mrs Penfounds geheimes Vergnügen war, hatten er und Janine noch nicht herausgefunden, weil Mrs Penfound das Einwickelpapier nicht in den Papierkorb tat. Aber ihre Kiefer waren ständig verstohlen in Bewegung.
Er erwähnte die Klinik, in der er eine Zeit lang Patient gewesen war, und sprach von den Ähnlichkeiten mit dem Büro, im Hinblick auf geheime Süßigkeiten. Auf Geheimnisse ganz allgemein. Aber der Unterschied war, dass man in der Klinik immer wieder einmal gefesselt und weggebracht und an die Steckdose angeschlossen wurde.
»Das war ganz interessant. Eigentlich war es entsetzlich. Aber ich kann es nicht beschreiben. Das ist das Verrückte daran. Ich kann mich daran erinnern, aber es nicht beschreiben.«
Aufgrund dieser Ereignisse in der Klinik, sagte er, fehle es ihm an Erinnerungen. An Einzelheiten. Er hatte es gern, wenn Lorna ihm welche von sich erzählte.
Sie erzählte ihm von ihrem Leben vor ihrer Heirat mit Brendan. Von den zwei Häusern, die sich genau glichen und in der Stadt, in der sie aufgewachsen war, nebeneinander standen. Davor war ein tiefer Graben namens Färberbach, weil er Wasser führte, das meistens von den Farbstoffen aus der Strickwarenfabrik eingefärbt war. Hinter ihnen war eine verwilderte Wiese, die Mädchen besser nicht betraten. In dem einen Haus wohnte sie mit ihrem Vater, in dem anderen wohnten ihre Großmutter und ihre Tante Beatrice und ihre Kusine Polly.
Polly hatte keinen Vater. So wurde immer gesagt, und Lorna hatte wirklich daran geglaubt. Polly hatte keinen Vater, so, wie Katzen auf der Insel Man keinen Schwanz haben.
Im Wohnzimmer der Großmutter hing eine Karte vom Heiligen Land, aus Wolle in vielen Farbtönen gearbeitet, die biblische Orte zeigte. Sie wurde in ihrem Testament der presbyterianischen Sonntagsschule hinterlassen. Tante Beatrice hatte
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