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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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seit der Zeit ihrer vertuschten Schande keinerlei gesellschaftlichen Umgang mehr gehabt, der einen Mann einschloss, und sie war so etepetete, so penibel in ihrer Lebensführung, dass sich Pollys Empfängnis ohne weiteres als unbefleckt vorstellen ließ. Von Tante Beatrice hatte Lorna nur gelernt, dass man eine Naht immer von den Seiten her bügeln musste, nicht flach von oben, damit das Bügeleisen keinen Abdruck hinterließ, und dass eine hauchdünne Bluse nie ohne Unterkleid getragen werden durfte, damit die Träger des Büstenhalters nicht zu sehen waren.
    »O ja. Ja«, sagte Lionel. Er streckte die Beine aus, als reichte sein Verständnis bis in die Zehen. »Jetzt zu Polly. Aus diesem trostlosen Haushalt, wie ist sie denn so?«
    Polly sei ganz in Ordnung, sagte Lorna. Energiegeladen und umgänglich, gutherzig, selbstsicher.
    »Ach«, sagte Lionel. »Erzählen Sie mir wieder von der Küche.«
    »Von welcher?«
    »Von der ohne Kanarienvogel.«
    »Also von unserer.« Sie beschrieb den Küchenherd, den sie mit eingewachstem Butterbrotpapier gewienert hatte, bis er glänzte, die geschwärzten Borde dahinter, auf denen die Bratpfannen standen, die Spüle und den kleinen Spiegel darüber, dem in einer Ecke ein dreieckiges Stück fehlte, und darunter die kleine, von ihrem Vater angefertigte Blechschale, in der immer ein Kamm lag, ein alter Tassenhenkel und ein Näpfchen mit eingetrocknetem Rouge, das noch von ihrer Mutter stammen musste.
    Sie erzählte ihm ihre einzige Erinnerung an ihre Mutter. Sie war an einem Wintertag mit ihrer Mutter im Stadtzentrum. Zwischen dem Bürgersteig und dem Fahrdamm lag Schnee. Sie hatte gerade die Uhr lesen gelernt, und sie schaute zu der großen Uhr am Postamt hoch und sah, dass es Zeit für die Seifenoper war, die sie sich mit ihrer Mutter jeden Tag im Radio anhörte. Sie geriet in große Sorge, nicht, weil sie die Geschichte versäumte, sondern weil sie sich den Kopf zerbrach, was wohl mit den Leuten in der Geschichte wurde, wenn das Radio nicht angestellt war und ihre Mutter und sie nicht zuhörten. Sie empfand sogar mehr als Sorge, geradezu Entsetzen bei dem Gedanken an all das, was verloren gehen konnte, sich gar nicht erst ereignen konnte, allein durch eine zufällige Abwesenheit, einen zufälligen Umstand.
    Und selbst in dieser Erinnerung war ihre Mutter nur eine Hüfte und eine Schulter in einem dicken Mantel.
    Lionel sagte, dass er sich von seinem Vater kaum mehr in den Sinn rufen konnte, obwohl sein Vater noch lebte. Das Vorbeirauschen eines Chorrocks? Lionel hatte mit seiner Mutter immer Wetten darüber abgeschlossen, wie lange sein Vater es durchhalten würde, nicht mit ihnen zu sprechen. Einmal hatte er seine Mutter gefragt, was seinen Vater so wütend mache, und sie hatte geantwortet, sie habe keine Ahnung.
    »Ich denke, vielleicht gefällt ihm seine Arbeit nicht«, sagte sie.
    Lionel fragte: »Warum sucht er sich nicht eine andere?«
    »Vielleicht weiß er keine, die ihm gefällt.«
    Daraufhin war Lionel eingefallen, dass er, als sie mit ihm ins Museum gegangen war, große Angst vor den Mumien gehabt hatte und dass sie ihm erklärt hatte, sie seien in Wirklichkeit gar nicht tot, sondern konnten aus ihren Kisten steigen, wenn alle nach Hause gegangen waren. Also fragte er: »Kann er nicht Mumie werden?« Sie aber hatte »Mutti« verstanden und die Geschichte später als Witz erzählt, und er hatte nicht den Mut aufgebracht, sie zu verbessern. War schon in diesem zarten Alter von dem Riesenproblem der Verständigung entmutigt worden.
    Das war eine der wenigen Erinnerungen, die ihm geblieben waren.
    Brendan lachte – er lachte über diese Geschichte mehr als Lorna oder Lionel. Brendan setzte sich immer mit den Worten »Na, worüber schwatzt ihr beide?« eine Weile zu ihnen, dann, als hätte er für diesmal seine Schuldigkeit getan, stand er ein wenig erleichtert auf, sagte, dass er noch was zu tun habe, und ging ins Haus. Als wäre er froh über ihre Freundschaft, hätte sie in gewisser Weise vorhergesehen und zuwege gebracht – trotzdem machten ihre Gespräche ihn nervös.
    »Es tut ihm gut, hierher zu kommen und für ein Weilchen normal zu sein, statt in seinem Zimmer zu hocken«, sagte er zu Lorna. »Natürlich giert er nach dir. Der arme Kerl.«
    Er sagte gern, dass die Männer nach Lorna gierten. Besonders, wenn sie eine Fachschaftsparty besucht hatten und Lorna die jüngste Ehefrau gewesen war. Es wäre ihr peinlich gewesen, wenn das jemand mit angehört und

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