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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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an Tante Beatrice nebenan, die sich Sorgen machte, was die Leute über sie redeten, die Angst hatte, dass sie hinter ihrem Rücken lachten und Dinge über sie an Hauswände schrieben. Die weinte, weil beim Kirchgang ihr Unterrock zu sehen gewesen war. An zu Hause zu denken schmerzte Lorna, doch sie konnte sich nicht des Gefühls erwehren, dass Polly auf sie einhämmerte, sich bemühte, sie zu einer Kapitulation zu zwingen, sie in das familiäre Elend einzubinden. Und sie hatte sich fest vorgenommen, nicht nachzugeben.
    Sieh dich doch bloß mal an. Sieh dir dein Leben an. Deine Edelstahlspüle. Dein Haus, in dem die Architektur den Ausschlag gibt.
    »Wenn ich jetzt weggehen würde, hätte ich, glaub ich, zu viele Schuldgefühle«, sagte Polly. »Das könnte ich nicht ertragen. Ich hätte zu viele Schuldgefühle, wenn ich sie verlasse.«
    Manche Leute haben natürlich nie Schuldgefühle. Manche Leute haben überhaupt keine Gefühle.
     
    »Na, das ist ja eine ziemliche Leidensgeschichte«, sagte Brendan, als sie nebeneinander im Dunkeln lagen.
    »Es bedrückt sie«, sagte Lorna.
    »Denk dran, wir sind keine Millionäre.«
    Lorna war entsetzt. »Sie will kein Geld.«
    »Ach nein?«
    »Deswegen hält sie mir das nicht vor.«
    »Da sei dir nicht so sicher.«
    Sie lag starr da und antwortete nicht. Dann fiel ihr etwas ein, was seine Laune bessern könnte.
    »Sie bleibt nur zwei Wochen.«
    Jetzt war es an ihm, nicht zu antworten.
    »Findest du sie hübsch?«
    »Nein.«
    Sie wollte ihm erzählen, dass Polly ihr das Hochzeitskleid genäht hatte. Ihr ursprünglicher Plan war, sich in ihrem marineblauen Kostüm trauen zu lassen, aber Polly hatte ein paar Tage vor der Hochzeit gesagt: »Das geht so nicht.« Dann holte sie ihr eigenes High-School-Abendkleid heraus (Polly war immer viel beliebter als Lorna gewesen und auf Schulbälle gegangen) und setzte Keile aus weißer Spitze ein und nähte Ärmel an, auch aus weißer Spitze. Denn, sagte sie, eine Braut kann nicht ohne Ärmel gehen.
    Aber was hätte ihn das gekümmert?
     
    Lionel war für ein paar Tage nicht da. Sein Vater war in den Ruhestand gegangen, und Lionel half ihm beim Umzug aus der Stadt in den Rocky Mountains nach Vancouver Island. Am Tag nach Pollys Ankunft bekam Lorna einen Brief von ihm. Kein Gedicht – einen richtigen Brief, obwohl er sehr kurz war.
    Ich habe geträumt, dass ich Sie auf meinem Fahrrad mitgenommen habe. Wir fuhren sehr schnell. Sie schienen keine Angst zu haben, obwohl Sie vielleicht hätten Angst haben sollen. Wir dürfen uns nicht aufgefordert fühlen, das zu interpretieren.
    Brendan war früh aus dem Haus gegangen. Er gab Ferienkurse und sagte, er werde in der Mensa frühstücken. Sobald er fort war, kam Polly aus ihrem Zimmer. Statt des Glockenrocks trug sie eine Freizeithose, und sie lächelte die ganze Zeit, wie über einen nur ihr bekannten Witz. Sie hielt den Kopf leicht gesenkt, um Lornas Blick zu vermeiden.
    »Ich geh lieber los und seh mir was von Vancouver an«, sagte sie, »zumal ja unwahrscheinlich ist, dass ich je wieder herkomme.«
    Lorna kreuzte einiges auf einem Stadtplan an, gab ihr Anweisungen und sagte, es tue ihr leid, dass sie nicht mitkommen könne, aber es sei eher eine Last, als dass es lohne, mit den Kindern.
    »Nein, nein. Das habe ich auch nicht erwartet. Ich bin nicht hergekommen, damit du mich die ganze Zeit am Hals hast.«
    Elizabeth spürte die angespannte Atmosphäre. Sie fragte: »Warum sind wir eine Last?«
    Lorna legte Daniel früher zu seinem Mittagsschläfchen hin, und als er wach wurde, setzte sie ihn in den Kinderwagen und sagte Elizabeth, sie gingen zu einem Spielplatz. Der Spielplatz, den sie sich ausgesucht hatte, war nicht der im nahen Park – er lag den Hügel hinunter, gleich bei der Straße, in der Lionel wohnte. Lorna wusste, wo er wohnte, obwohl sie das Haus noch nicht gesehen hatte. Sie wusste, dass es ein kleineres Haus war, kein Mietshaus. Er wohnte oben, in einem Zimmer.
    Für den Hinweg brauchte sie nicht lange – obwohl der Rückweg zweifellos länger dauern würde, wenn sie den Kinderwagen bergauf schieben musste. So war sie bereits im älteren Teil von North Vancouver angelangt, wo die Häuser kleiner waren und auf schmalen Grundstücken hockten. An dem Haus, in dem Lionel wohnte, stand neben der einen Klingel sein Name und neben der anderen B. Hutchison. Sie wusste, dass Mrs Hutchison seine Vermieterin war. Sie drückte auf deren Klingelknopf.
    »Ich weiß, Lionel ist nicht da, und

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