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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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aufgemauert und reichte durch die Decke, die Fenster waren hoch und schmal und ohne Gardinen. Die Architektur gibt überall den Ausschlag, hatte der Bauunternehmer ihnen gesagt, und Brendan wiederholte das, zusammen mit dem Wort »zeitgenössisch«, wenn er jemandem das Haus vorführte.
    Er ließ sich nicht dazu herbei, Polly das zu sagen oder die Architekturzeitschrift hervorzuholen, in der ein Artikel über diesen Stil stand, mit Fotos – wenngleich auch nicht von diesem Haus.
     
    Polly hatte von zu Hause die Angewohnheit mitgebracht, ihre Sätze mit dem Namen der Person zu beginnen, an die sie gerichtet waren. »Lorna …«, sagte sie dann, oder »Brendan …«. Lorna hatte diese Redeweise ganz vergessen – jetzt kam sie ihr ziemlich schroff und unhöflich vor. Die meisten von Pollys Sätzen am Abendbrottisch begannen mit »Lorna …« und drehten sich um Leute, die nur den beiden Frauen bekannt waren. Lorna wusste, dass es nicht in Pollys Absicht lag, unhöflich zu sein, dass sie sich heftig und tapfer anstrengte, ungezwungen zu wirken. Und sie hatte anfangs versucht, Brendan mit einzubeziehen. Beide hatten es versucht, auch Lorna, hatten ausführlich erklärt, von wem sie gerade redeten – aber es funktionierte nicht. Brendan sprach nur, um Lorna darauf hinzuweisen, dass auf dem Tisch etwas fehlte oder dass Daniel sein püriertes Essen um seinen Kinderstuhl herum verschüttete.
    Polly redete weiter, während sie mit Lorna den Tisch abräumte und das Geschirr abwusch. In der Regel richtete es Lorna so ein, die Kinder zu baden und zu Bett zu bringen, bevor sie an den Abwasch ging, aber heute Abend war sie zu sehr durcheinander – sie spürte, dass Polly den Tränen nahe war –, um alles in der gewohnten Reihenfolge zu erledigen. Sie ließ Daniel auf dem Fußboden herumkrabbeln, während Elizabeth, die immer neugierig auf fremden Besuch war, sich herumdrückte und ihrem Gespräch zuhörte. Das dauerte, bis Daniel seinen Kinderstuhl umstieß – zum Glück nicht auf sich selbst, aber er kreischte vor Schreck –, und Brendan kam aus dem Wohnzimmer.
    »Die Schlafenszeit ist offenbar hinausgeschoben worden«, sagte er, als er seinen Sohn aus Lornas Armen nahm. »Elizabeth. Geh und mach dich fertig für dein Bad.«
    Polly redete inzwischen nicht mehr über Leute in der Stadt, sondern beschrieb, wie es zu Hause lief. Nicht gut. Der Besitzer des Eisenwarenladens – ein Mann, von dem Lornas Vater immer wie von einem Freund gesprochen hatte und kaum je wie von einem Arbeitgeber – hatte das Geschäft verkauft, ohne ihm ein Wort davon zu sagen, und ihn vor vollendete Tatsachen gestellt. Der neue Mann erweiterte den Laden, gleichzeitig verlor er Umsatz an Canadian Tire, und es verging kein Tag, an dem er nicht mit Lornas Vater einen Streit vom Zaun brach. Wenn Lornas Vater aus dem Geschäft nach Hause kam, war er so erledigt, dass er sich nur noch aufs Sofa legen wollte. Die Zeitung oder die Nachrichten interessierten ihn nicht. Er nahm doppeltkohlensaures Natron, mochte aber nicht über seine Magenschmerzen reden.
    Lorna erwähnte einen Brief von ihrem Vater, in dem er diese Sorgen verharmloste.
    »Na ja, ist doch klar«, sagte Polly. »Dir gegenüber.«
    Die Instandhaltung beider Häuser, sagte Polly, war ein ständiger Albtraum. Sie müssten eigentlich alle in ein Haus zusammenziehen und das andere verkaufen, aber seitdem Großmutter im Ruhestand war, hatte sie an Pollys Mutter ständig etwas auszusetzen, und Lornas Vater konnte den Gedanken nicht ertragen, mit den beiden zusammenzuleben. Polly hatte oft Lust, aus dem Haus zu gehen und nie mehr zurückzukommen, aber was würden sie ohne sie anfangen?
    »Du solltest dein eigenes Leben leben«, sagte Lorna. Es kam ihr merkwürdig vor, Polly Ratschläge zu erteilen.
    »Ja, klar, klar«, sagte Polly. »Ich hätte abhauen sollen, solange noch Gelegenheit war, das wär wohl das Beste gewesen. Aber wann war das? Ich kann mich nicht erinnern, wann die Gelegenheit je günstig war. Erstmal saß ich da und musste dich durch die Schule bringen, zum Beispiel.«
    Lorna hatte in bedauerndem, hilfsbereiten Tonfall gesprochen, weigerte sich aber, ihre Arbeit zu unterbrechen, um Pollys Neuigkeiten gebührend zu würdigen. Sie nahm sie hin, als beträfen sie irgendwelche Leute, die sie kannte und mochte, für die sie aber nicht verantwortlich war. Sie dachte an ihren Vater, wie er abends auf dem Sofa lag und Mittel gegen Schmerzen nahm, die er nicht zugeben wollte, und

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