Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
sie konnte beschreiben, wie sie versucht hatte, Brendan ihre Hand zu entwinden, um an ihr Taschentuch zu kommen, er sie aber nicht losließ, und so musste sie weiter die Nase hochziehen. Und sie hatte nicht geweint, weil sie nicht heiraten wollte oder Brendan nicht liebte. Sie hatte geweint, weil alles zu Hause ihr plötzlich so liebenswert vorkam – obwohl sie immer vorgehabt hatte, fortzugehen –, und die Menschen dort schienen ihr näher zu stehen, als jemand anders es je konnte, obwohl sie all ihre privaten Gedanken immer vor ihnen verborgen hatte. Sie weinte, weil sie und Polly gelacht hatten, als sie am Tag zuvor die Küchenregale geputzt und das Linoleum aufgewischt hatten und sie so getan hatte, als wäre sie in einem schmalzigen Theaterstück, und gesagt hatte: Ade, altes Linoleum, ade, Sprung in der Teekanne, ade, du Stelle unter dem Tisch, wo ich immer meinen Kaugummi hingeklebt habe, ade.
Warum sagst du ihm nicht einfach, es wird nichts, hatte Polly gefragt. Aber natürlich meinte sie es nicht ernst, sie war stolz, und Lorna selbst war auch stolz, achtzehn Jahre alt und nie einen richtigen Freund, und jetzt heiratete sie einen gut aussehenden, dreißig Jahre alten Mann, einen Professor.
Trotzdem hatte sie geweint, ebenso in der Anfangszeit ihrer Ehe, wenn sie Briefe von zu Hause bekam. Brendan hatte sie dabei ertappt und gesagt: »Du liebst deine Familie, wie?«
Sie fand, er klang mitfühlend. Sie sagte: »Ja.«
Er seufzte. »Ich glaube, du liebst sie mehr, als du mich liebst.«
Sie sagte, das sei nicht wahr, nur manchmal tue ihre Familie ihr leid. Sie hatten alle viel durchzumachen, ihre Großmutter, die Jahr für Jahr die vierte Klasse unterrichtete, obwohl ihre Augen so schlecht waren, dass sie kaum sehen konnte, was sie an die Tafel schrieb, und Tante Beatrice mit zu vielen nervösen Beschwerden, um je arbeiten zu können, und ihr Vater – Lornas Vater –, der in einem Eisenwarenladen rackerte, der ihm nicht mal gehörte.
»Viel durchzumachen?«, sagte Brendan. »Sind sie etwa in Konzentrationslagern gewesen?«
Dann sagte er, man brauche in dieser Welt eben Durchsetzungsvermögen. Und Lorna warf sich aufs Ehebett und überließ sich einem jener wütenden Weinkrämpfe, für die sie sich inzwischen schämte. Brendan kam nach einer Weile und tröstete sie, glaubte aber immer noch, dass sie weinte, wie Frauen es stets tun, wenn sie einen Streit nicht anders gewinnen können.
Einiges an Pollys Aussehen hatte Lorna vergessen. Wie groß sie war und was für einen langen Hals sie hatte und was für eine schmale Taille, dazu so gut wie keinen Busen. Ein knubbeliges kleines Kinn und einen trockenen Mund. Blasse Haut, hellbraune kurz geschnittene Haare, fein wie Federn. Sie sah zugleich zart und widerstandsfähig aus, wie ein Gänseblümchen auf einem langen Stängel. Sie trug einen mit Stickereien verzierten Glockenrock aus Jeansstoff.
Achtundvierzig Stunden im Voraus hatte Brendan erfahren, dass sie kam. Sie hatte aus Calgary angerufen, per R-Gespräch, und er war ans Telefon gegangen. Danach stellte er drei Fragen. Sein Ton war kühl, aber ruhig.
Wie lange bleibt sie?
Warum hast du mir nichts gesagt?
Warum hat sie per R-Gespräch angerufen?
»Ich weiß nicht«, sagte Lorna.
In der Küche bereitete Lorna jetzt das Abendessen zu und spitzte die Ohren, um zu hören, was die beiden zueinander sagen würden. Brendan war gerade nach Hause gekommen. Seine Begrüßung konnte sie nicht hören, aber Pollys Stimme war laut und getragen von waghalsiger Lustigkeit.
»Also hab ich gleich auf dem falschen Fuß angefangen, Brendan, wart’s mal ab, was ich gesagt hab. Ich komm mit Lorna von der Bushaltestelle, und wir gehen die Straße rauf, und ich sage: Au, Schande, ein ziemlich nobles Viertel, in dem du wohnst, Lorna – und dann sag ich: Aber sieh dir mal die Hütte da an, was hat die hier zu suchen? Ich hab gesagt: Die sieht ja aus wie eine Scheune.«
Sie hätte sich keinen schlimmeren Anfang ausdenken können. Brendan war sehr stolz auf das Haus. Es war ein zeitgenössisches Holzhaus, erbaut in dem Westküstenstil, der Pfosten- und-Bohlen genannt wurde. Pfosten-und-Bohlen-Häuser wurden nicht angestrichen; dahinter stand die Vorstellung, sie den ursprünglichen Wäldern anzupassen. Also wirkten sie von außen schlicht und funktional, mit flachem Dach, das die Wände überkragte. Im Inneren lagen die Bohlen bloß, und das gesamte Holz war unverkleidet. Der Kamin in diesem Haus war
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