Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
auslöste.
Na ja. Es war nun einmal so und würde immer so bleiben, egal, ob wir uns je wieder begegneten oder nicht. Liebe, für die es keine Verwendung gab, die sich bescheiden musste. (Manche würden sagen, keine wahrhafte, weil sie nie riskieren würde, sich den Hals zu brechen oder zu einem schlechten Witz zu werden oder sich traurig abzunutzen.) Die nichts riskierte, jedoch als süßes Rinnsal, als untergründiger Quell am Leben blieb. Mit der Last dieser neuen Verschwiegenheit darauf, diesem Siegel.
Ich fragte Sunny nie nach ihm, und sie erwähnte ihn auch nie, in all den Jahren unserer schwindenden Freundschaft.
* * *
Die Pflanzen mit den großen rosa-violetten Blüten gehören nicht zu den Nesseln. Ich habe herausgefunden, dass sie Wasserdost heißen. Die Brennnesseln, in die wir geraten sein müssen, sind wesentlich unscheinbarer, haben hellere Blüten und Stängel, die böse mit feinen, angriffslustigen, hautdurchdringenden, giftigen Stachelhärchen ausgerüstet sind. Bestimmt wuchsen sie auch da, unbemerkt in all dem Wuchern der brachliegenden Wiese.
Pfosten und Bohlen
Lionel erzählte ihnen, wie seine Mutter gestorben war.
Sie hatte nach ihrem Make-up verlangt. Lionel hielt den Spiegel.
»Es wird etwa eine Stunde dauern«, sagte sie.
Grundierung, Gesichtspuder, Augenbrauenstift, Wimperntusche, Konturenstift, Lippenstift, Rouge. Sie war langsam und zittrig, aber sie machte ihre Sache gar nicht so schlecht.
»Es hat keine Stunde gedauert«, sagte Lionel.
Sie sagte, nein, das habe sie nicht gemeint.
Sie hatte das Sterben gemeint.
Er fragte, ob er seinen Vater rufen solle. Seinen Vater, ihren Mann, ihren Geistlichen.
Sie gab zurück: Wozu.
In ihrer Voraussage hatte sie sich nur um etwa fünf Minuten vertan.
Sie saßen hinter dem Haus – Lornas und Brendans Haus – auf einer kleinen Terrasse, von der man Sicht auf die Burrardbucht und die Lichter von Point Grey hatte. Brendan stand auf, um den Rasensprenger zu versetzen.
Lorna hatte Lionels Mutter erst vor ein paar Monaten kennen gelernt. Eine hübsche kleine weißhaarige Frau mit unverwüstlichem Charme, die aus einer Stadt in den Rocky Mountains nach Vancouver heruntergekommen war, um die Comédie Française auf deren Tournee zu sehen. Lionel hatte Lorna gebeten, ihn und seine Mutter zu begleiten. Nach der Vorstellung, als Lionel seiner Mutter ins blaue Samtcape half, hatte sie zu Lorna gesagt: »Ich freue mich sehr, die
belle amie
meines Sohnes kennen zu lernen.«
»Wir wollen es mit dem Französisch nicht übertreiben«, sagte Lionel.
Lorna wusste nicht einmal genau, was das bedeutete.
Belle amie.
Schöne Freundin? Geliebte?
Lionel hatte die Augenbrauen hochgezogen, über den Kopf seiner Mutter hinweg. Als wollte er sagen: Was immer sie sich zusammengereimt hat, ich kann nichts dafür.
Lionel hatte früher einmal an der Universität bei Brendan studiert. Ein Rohdiamant, ein sechzehn Jahre altes Wunderkind. Die größte mathematische Begabung, die Brendan je untergekommen war. Lorna fragte sich, ob Brendan das im Nachhinein dramatisierte, aufgrund seiner ungewöhnlichen Großzügigkeit gegenüber begabten Studenten. Auch aufgrund der Wendung, die die Dinge genommen hatten. Brendan hatte dem ganzen irischen Umfeld – seiner Familie und seiner Kirche und den sentimentalen Liedern – den Rücken gekehrt, aber er hatte immer noch eine Schwäche für tragische Geschichten. Und tatsächlich hatte Lionel nach seinem brillanten Start eine Art Zusammenbruch erlitten, musste in eine Klinik eingewiesen werden und verschwand von der Bildfläche. Bis Brendan ihn im Supermarkt getroffen und festgestellt hatte, dass er gar nicht weit von ihnen hier in North Vancouver wohnte. Er hatte die Mathematik völlig aufgegeben und arbeitete in der Pressestelle der anglikanischen Kirche.
»Kommen Sie uns besuchen«, hatte Brendan gesagt. Lionel wirkte auf ihn ein wenig heruntergekommen und einsam. »Kommen Sie und lernen Sie meine Frau kennen.«
Er war froh, jetzt ein Zuhause zu haben, in das er Leute einladen konnte.
»Ich hatte also keine Ahnung, was für ein Mensch Sie sind«, sagte Lionel, als er Lorna das berichtete. »Ich hielt für möglich, dass Sie schrecklich sind.«
»Ach«, sagte Lorna. »Warum?«
»Ich weiß nicht. Ehefrauen.«
Er besuchte sie abends, wenn die Kinder im Bett waren. Die kleinen Störungen durch das Familienleben – das Greinen des Babys, das aus einem offenen Fenster zu ihnen drang, die Gardinenpredigt, die
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