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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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auch gehört.
    * * *
    Heute, lange Zeit später, würde ich gerne behaupten, dass ich wieder in diese U-Bahn stiege, sollte jemand die Zeit zurückdrehen und mich die Entscheidung erneut treffen lassen. Ich wäre wohl die Heldin in diesem Stück, wenn ich sagen könnte, dass ich nichts von dem, was passiert ist, bereue.
    Dem ist nicht so.
    In diese Bahn zu steigen, hat mein Leben verändert. Diese winzige Entscheidung – einzusteigen oder nicht – hat mich in Stücke zerfetzt; ein Loch in meinem Inneren geflickt, von dem ich nicht wusste, dass es da war; mir Glück geschenkt und wieder entrissen; mich mit Wunden zurückgelassen und nichts als einer vagen Hoffnung, eines Tages Heilung zu erfahren.
    Den Abgrund zu überschreiten und der warnenden Stimme zu trotzen, war die beste Entscheidung meines Lebens. Sie änderte alles und lehrte mich, wer ich bin. Doch ich würde sie nicht wieder treffen.

 

    Wie man am Leben bleibt
    Wenn schlimme Dinge passieren, verzerrt sich oft das, was man für die Realität hält, und das Unterbewusstsein pflanzt einem akzeptable Fantasien in den Kopf. Wahrheit? Indiskutabel.
    Als ich meinen Bruder damals leblos in seiner Wiege vorfand, war es genauso gewesen. Ich sah den unnatürlichen Graustich in seinem Gesichtchen und für einen Sekundenbruchteil war es ganz deutlich. Unter der wächsernen Haut regte sich kein Leben mehr.
    Mein Gehirn ließ den Gedanken allerdings nicht zu, sondern sagte: Er schläft doch nur, er schläft nur! So lange, bis ich die Worte schrie. Stundenlang.
    In diesem Augenblick war es ähnlich. Die Bahn ruckelte, ich wurde nach vorn geschleudert und die Kopfhörer schlugen mir ins Gesicht. Schon beim ersten metallenen Knirschen wusste ich, was geschah. Die U-Bahn entgleiste.
    Und dann war der Gedanke weg, wie aus meinem Kopf gerissen und fortgeschleudert.
    Der Schock schluckt die Angst und mit ihr jedes andere Gefühl.
    Alles um mich herum verschleierte zu einem Film. Man sieht, man hört. Aber das ist vorerst auch schon alles. Man hat keine Ahnung, was geschieht.
    Es ging sehr schnell. Dass solche Momente wie in Zeitlupe vor einem ablaufen, ist ein Gerücht. Ich fühlte mich eher wie auf Fast-Forward gestellt. Inklusive dem Quietschen, das ein vorgespultes Tonband von sich gibt, wenn man die Taste nur zur Hälfte herunterdrückt.
    Ein Krachen. Die Bahn stoppte aus voller Fahrt. Menschen flogen herum wie von Katapulten abgeschossen. Überall Geschrei. Sogar das Eisen kreischte. Ich wurde von meinem Sitz über die vor mir liegende Rückenlehne geschleudert und landete im Mittelgang. Hilflos schlitterte ich über den Boden, prallte gegen Bänke und Haltestangen und brachte eine Frau zu Fall. Vor mir zerbarst ein Fenster. Ich rutschte durch die Scherben und kam bäuchlings zwischen den Abteiltüren zum Halten. Irgendjemand stolperte über meine Beine, dann fiel jemand auf mich, sein Gesicht drückte mich flach auf den Boden und blieb auf mir liegen. Er war schwer. Mir versagte der Atem. Für einen Moment war alles still. Schwärze füllte meinen Blick. Dann blinzelte ich mühsam und bemerkte, dass das Licht flackerte. Nicht nur die Lampen, sondern irgendwie alles Licht.
    Die Bahn stand. Einen Augenblick herrschte gespenstische Ruhe, dann schwoll ein einzelnes Weinen zu Gebrüll an. Gegen den Boden gepresst, konnte ich nur Füße erkennen, die an mir vorbeirannten, auf meine Hände traten und über meinen Kopf stiegen. In Panik drängten die Menschen zu den Türen. Ich lag im Weg, festgenagelt zwischen den Flüchtenden und dem rettenden Ausgang.
    Ein Stiefel erwischte mich an der Stirn. Er war die rettende Ohrfeige, die mich zur Besinnung kommen ließ. Das war kein Film! Ich konnte nicht liegen bleiben! Sie würden mich tottrampeln, wenn ich nicht auf die Beine kam! Ich keuchte, wollte mich aufrichten, aber immer noch lag ein entsetzliches Gewicht auf meinem Rücken. Ich versuchte, um Hilfe zu schreien, aber da kam nur ein Wimmern. Alles, was ich tun konnte, war, das Gesicht in meinen Armen zu verbergen.
    Endlich hörte ich den Mann, der auf mir lag, aufstöhnen und er rutschte von mir herunter. Ich zog Arme und Beine an den Körper, um mich vor den fliehenden Leuten zu schützen, die gegen die Türen drängten, sie in ihrer Panik jedoch nicht aufbekamen.
    Â»Mädchen?« Ein älterer Herr mit einer immensen Platzwunde auf dem

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