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Himmelsspitz

Himmelsspitz

Titel: Himmelsspitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Tramitz
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und während Horst vor Erschöpfung noch vor sich hindämmerte, schlüpfte Isabel in Gedanken durch das kleine Fenster zurück auf das Holzdach, lächelte ihn nochmals an und winkte zum Abschied. Sie klopfte sich den Staub vom Kleid, packte ihren Picknickkorb und lief nach Hause, herrlichen Gewürzduft in der Nase. Dann schloss sie die Augen und genoss den starken Moment großer Gefühle. Wenn sie sie wieder öffnete, lag Horst neben ihr mit seinem drallen Bauch, den geblähten Backen, dem dünnen Mund und dem schweren, nach unten geklappten Kinn. Und so kehrte Isabel widerstrebend zurück in die Welt, die die Wirklichkeit bedeutete, worauf schwermütige Sehnsucht ihr Herz erfüllte.
    Würde jemand Isabel fragen, erhielte man die Antwort, sie habe Julius nie vergessen können. Zu sehr hatte dieser sich in ihr Herz gegraben. Aber einen Fragenden hatte es all die Jahre nach Julius’ Verschwinden nie gegeben.
    So sehr hatte sie gehofft, die von Julius hinterlassene Fotografie des Berges trüge eine geheime Botschaft in sich.
    Verstehe mich, lasse Zeit verstreichen, folge meiner Spur, suche mich.
    Doch diese Hoffnung hatte sich nicht erfüllt. Einen Julius, das hatten alle bestätigt, die Isabel im Ort gefragt hatte, den gebe es nicht in Fuchsbichl, und den habe es hier auch noch nie gegeben.
    Fünf Wochen waren sie inzwischen hier, und so lange hatte Isabel es vor sich hergeschoben, den Schnitzermeister Fertl nach der genauen Herkunft der Postkarte zu fragen, weil sie nicht wusste, wie sie mit der letzten Gewissheit und dem gänzlichen Verlust ihrer Hoffnung umgehen sollte.
    Isabel zählte die Tage, täglich aufs Neue. Heute, an diesem Vormittag, waren es nur noch sieben bis zu ihrer Heimreise. Heute würde sie sich einen Ruck geben und wissen wollen, wer dieser Freund gewesen sei.
    Vorsichtig kleidete sie sich an, nahm den Regenschirm und schlich aus dem Zimmer. Horst schmatzte wie ein kleines Kind, zog sich die Decke über den Kopf und drehte sich auf die Seite. Isabel lugte kurz in Leas Zimmer. Das Bett war bereits gemacht. Offensichtlich war ihr Kind schon unterwegs, unten, in der Küche, in der es so gern war oder sonst wo im Ort. Auf dem Tisch lagen ein paar Bilder, die Lea gemalt hatte. Viele von ihnen waren begonnen und mittendrin abgebrochen worden, jedoch zeigte sich auf jedem die zackige Krone des Himmelsspitz. Welche Faszination dieser Berg auf ihre Tochter ausübte, obgleich Isabel ihr gegenüber nur ein einziges Mal erwähnt hatte, das Bild des Himmelsspitzes sei ein Geschenk, eine vage Erinnerung an Leas Vater.
    Isabel stapelte die Blätter zu einem Haufen. Dann verließ sie das Zimmer, ohne jenes Bild bemerkt zu haben, das hinter dem Tisch auf den Boden gefallen war.
    Es zeigte die Häuser von Fuchsbichl, deren Bewohner und Tiere. In der Mitte hatte Lea die kleine Kapelle gemalt, mit ihrem Zwiebeltürmchen und den winzigen Fenstern. Diese waren rot ausgemalt, aus ihnen stieg schwarzer Qualm. Vor der Tür stand eine schwarz gekleidete Frau und hielt die Hände in die Höhe, den Mund zum Schrei geöffnet. Daneben hatte sich Lea selbst gezeichnet, mit geschlossenen Augen. Isabel lag auf der Sonnenterrasse des Hotels, das Gesicht voller roter Flecken. Über ihr baumelte Horst in den Fängen eines riesengroßen schwarzen Katers.
     
    Jeden Morgen gegen vier Uhr stand Agnes auf. Sie schob den Vorhang zur Seite und sah nach draußen. In so manch blauer Morgenstunde, wenn die Nacht gegen den Tag kämpfte, nahm sie eine Lampe und begab sich auf die Suche nach ihrem Kind. Meistens trug sie noch ihr Nachtgewand, denn sie durfte keine sinnlose Zeit verlieren, wenn sie glaubte, seine Schritte vernommen zu haben.
    Hin und wieder führte sie die Suche zur Kapelle, wo sie eine Kerze entzündete, zuweilen auch zwei oder drei, je nachdem, wie ihr zumute war. Danach kniete sie vor der Muttergottes nieder und sprach Gebete.
    Das inzwischen grau gewordene Haar hatte sie schon lange nicht mehr zu einem Kranz gebunden. Ihre einstige Schönheit hatte sich aufgelöst, das Blau ihrer Augen trug keinen Glanz mehr, ihre Blicke waren stumpf und leer, der Körper hatte seine Formen aufgegeben. Das Lebensglück war entwichen, zurück blieb eine Hülle trauriger Verwelkung.
    Sie saß gerade in der Stube am Spinnrad, die Fäden in der Hand, den Blick verloren. Schwere Regentropfen trommelten ans Fenster, sodass sie das Klopfen an der Tür nicht hörte.
    Sie erschrak, als Fertl plötzlich neben ihr stand.
    Er zog seine durchnässte

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