Himmelsspitz
Jacke aus, setzte sich zu Agnes und sprach in aller Sanftheit:
»Agnes. Hörst mich, Agnes.« Nichts rührte sich an ihr, nur der Fuß trat gleichmäßig auf und ab, die Wolle rann durch die Hände, ohne gedreht zu werden. Die Spule war bereits zu einem wirren, nutzlosen Knäuel gewachsen.
»Agnes, oh Gott, meine Agnes, ich bitt dich, so hör meine Worte.« Nach all den Jahren seiner innigsten Zuneigung, die einst im Heu mit Gedichten und Geschichten begonnen hatte, näherte er sich dem geliebten Gesicht und flüsterte Agnes ins Ohr:
»Du musst ins Spital, da helfen’s dir. Sagt auch die Cilli. Bitte, Agnes, sonst stirbst uns an der Verzweiflung. Agnes, ich schwör’s bei der Jungfrau Maria, ich steh dir bei, ich lass dich nicht allein. Niemals!«
Agnes ließ das Rad still stehen und sagte, ohne ihn anzublicken:
»Weißt noch, wie du mir Gedichte vorg’lesn hast, Fertl? Damals im Heu? Weißt noch ein Gedicht?«
»Alle weiß ich noch, alle. Ich hab sie nie vergessen können.«
»Bitte Fertl, sag mir eins, so wie früher. Ich wünsch’s mir so!«
»Agnes, dann sag ich’s dir wie einst der Strachwitz in seinem ›Katarakt‹:
Und sahst du nun erfüllt dein Hoffen?-
Sahst du den Himmel? – Ward er dein?
Noch immer steht der Abgrund offen,
Noch immer donnerst du hinein.
Nie sah man Rast in deinem Schlunde,
seit du dein Haupt hinweggebeugt,
Du stirbst zehnmal in der Sekunde
Und zehnmal wirst du neu erzeugt.
Ich sehe, wie in immer schnellerm
Und schnellem Sturz du dringend bangst,
Und höre aus den Felsenkellern
Das Brüllen deiner Todesangst.«
»Wie schön«, meinte sie, nachdem er beendet hatte. »Wie schön.«
»Agnes, hast net g’hört, was die Worte g’sagt haben? Es geht um dich, um dich! Hast net verstanden?«
»Oh doch, Fertl, wohl hab ich’s g’hört und verstanden. Aber ich hab keine Angst. Ich bang mich net. Es geht ihnen gut, wo sie sind, sie kemma wieder zurück, mein Tobi und der Wurzl, beide. Sobald der Herrgott ihn zu sich g’holt hat, den Vater.«
Langsam, zaghaft und zärtlich nahm Fertl ihr Gesicht in seine rauen Hände.
»Agnes, sie haben den Wurzl g’funden. All die Jahr hat er g’lebt, draußen in den Wäldern.«
Agnes sah ihn fragend an. »Woher weißt des, Fertl?«
»Gäste vom Himmelsspitz haben ihn an der Straße g’funden. Er ist g’storbn, aber er hat lange g’lebt, stell dir vor, bis vor wenigen Wochen noch.«
Agnes ließ die Hände in den Schoß sinken:
»Fertl, lass mich allein, bitte Fertl, lass mich«, sagte sie mit bebender Stimme.
Da küsste er sie zum ersten Mal in seinem Leben.
Zaghaft, vorsichtig und sanft küsste er ihre Wange, dann ihre spröden Lippen.
»Gut, ich geh, aber ich werd immer wieder kemma, bist runter gehst ins Tal mit mir und dir helfen lasst. Ich schwör’s.«
Als Fertl die Tür hinter sich geschlossen hatte, legte Agnes die Spule auf den Tisch, blickte zur Jungfrau Maria und sprach stille Worte.
Dann ging sie in die Küche und stellte eine Schale mit einem Kräutergemisch auf den Herd.
»Muss der wieder sein, dieser Gestank?«, fragte Vinzenz gereizt. Er saß am Küchentisch und schärfte ein Messer. In seinem Mundwinkel hing Urbans Pfeife.
»Ich geh zum Vater, ihm was sagen«, antwortete sie.
»Ja, schau nach, ob er noch lebt oder ob ihn der Höllenfürst schon g’holt, hat. Irgendwann muss er ja kemma und ihn mitnehmen.« Er prüfte die Klinge und fügte hinzu: »Aber mit deinen Kräutern vertreibst ihn ja, den Teufel.«
Agnes sah ihren Mann mit leerem Blick an.
»Ach Vinzenz«, sagte sie, nahm einen Becher Milch und die Schale mit den brennenden Kräutern und ging durch den Regen hinüber zum Stall, über dem seit Generationen das Austragszimmer für die Alten lag.
Dort betrat sie des Vaters dunkles Reich zwischen Himmel und Hölle, das Agnes jedoch näher am Leibhaftigen als am Allmächtigen vermutete, so düster es dort selbst an den sonnigen Tagen war. Das ist die Strafe Gottes, dachte sie jedes Mal, während sie die steile Treppe nach oben stieg, Strafe Gottes, wenn er sein Licht hier nie herschickte, sondern den Luzifer umherschleichen ließ. Ja, der Teufel, dessen war Agnes sich gewiss, trieb hier im dunklen Stall sein Unwesen, bis St. Michael sich entschieden hatte, wer Vaters Seele mitzunehmen habe.
Die Tiere waren sonderbar unruhig, teilweise gar unberechenbar wild, seitdem Urban über ihnen sein Lager bezogen hatte. Die Kühe gaben saure Milch, fand Agnes, und die Eier der Hennen rochen
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