Himmelsspitz
Dort setzte er sich vor die Tür und blickte mit funkelnden Augen ins Innere des Zimmers, zum schlafenden Kind.
Mit allergrößter Anstrengung versuchte Urban, den erlösenden Schlaf herbeizudenken. Kinder werden in den Schlaf gesungen, Erwachsene arbeiten den ganzen Tag, sodass sie sofort, nachdem sie sich in die Kissen gelegt haben, ins Reich der Träume getragen werden. Lebewesen, so wie er eins war, mussten sich in den Schlaf denken, was bedeutete: Gedanken ausschalten, die einen wach halten, und solche finden, die einschläfernd wirken. Diese Nacht galt es, jene Überlegungen auszuschalten, die sich um Agnes und den Köter drehten. Um seine Tochter, die manchmal so garstig sein konnte, und um Wurzl. Man hatte ihn also gefunden. Würde man etwa auch Tobi finden? Doch schon kappte er jeden weiteren Gedanken und konzentrierte sich wieder auf das Einschlafen. Urban hatte diesbezüglich ein gewisses Geschick entwickelt. Voraussetzung war, Agnes hatte ihn auch fürs Jenseits gebettet, was heute gottlob der Fall war. Im Diesseits gab es nachts nämlich wenig zu sehen, im Jenseits jedoch sah Urban das Himmelszelt, in dem die vielen kleinen und großen Sterne leuchteten. Aus den winzigen Himmelskörpern formte Urban Figuren, aus diesen wiederum Geschichten. Und wenn ihm nichts einfiel, dann zählte er die Sterne, die im Fensterrahmen hingen, so lange, bis ihm vor Anstrengung die Augen zufielen. Was für eine klare Nacht war heute, dachte er. Nach all dem vielen Regen der vergangenen Wochen.
Wie spät es wohl sein mochte? Urban hatte das Gespür für die Zeit hier in der Kammer verloren, was er in Anbetracht seines angeschlagenen Verhältnisses ihr gegenüber nicht schlimm fand.
Während er so nachdachte, klopfte es auf einmal an seine Kammertür. Jetzt? Um diese Zeit? Zu der ihn gewöhnlich niemand mehr besuchen kam?
Aus seinen Augenwinkeln heraus sah er, wie Fertl ins Zimmer kam, mit einem Jutesack in der Hand. Schnell schloss der Kraxner die Augen, einen Schlafenden kann so leicht nichts erschüttern, dachte er, fürchtend, dieser ungewöhnliche Besuch könnte Ungewöhnliches oder gar Unangenehmes bedeuten.
Urban hörte zuerst ein dumpfes Geräusch – Fertl hatte wohl den Sack auf den Boden gelegt – dann entschlossene Schritte, wie sie in der Kammer auf und ab gingen. Hin zum Fenster, zurück zum Bett. Plötzlich überfiel Fertl ein Husten, so heftig, dass Urban fürchtete, der Schnitzer würde ersticken und somit noch vor ihm das Zeitliche segnen. Doch hielt der Kraxnerbauer seine Augen eisern geschlossen und harrte scheinbar schlafend dessen, was kommen sollte.
»Zwei Sachen muss ich dir sagen, Kraxner«, begann Fertl schließlich.
»Erstens. Hab dir was mitbracht, hier im Sack. Ich glaub, es ist Zeit, dass ich’s dir zurückgeb, nach all den Jahren. Kannst dich noch erinnern, an die Nacht, wo’st der Agnes und dem Luis hinterherg’schlichn bist? Rauf zur Jagdhüttn vom alten Oswin?«
Das Beil!, schoss es Urban durchs Hirn, richtig, das Beil hatte er da fallen gelassen in jener Nacht, in der der Halunke Luis seine Agnes so unverschämt liebkost hatte.
Fertl!
Er war es also gewesen. Ausgerechnet der Jesusschnitzer! Er hatte das sündige Paar beschützt. Wieso nur war er, der sonst so schlaue Urban, da nicht vorher schon draufgekommen?
»Urban, du hättest Agnes mit Luis gehen lassen sollen. Da hätt sie es besser g’habt als hier auf dem Kraxnerhof. Aber du hast ihr die Liebe nicht vergönnt, hast den Luis von heut auf morgen fortg’schickt, weilst g’wusst hast, dass der Luis warten wollt mit dem Fortgehn, bis Agnes mitkommen wär. Aber du hast ihn erpresst: entweder du gehst sofort oder ich dreh dem Tremplerhof das Wasser ab, hast droht.«
Hat der Bastard Luis dem Fertl also alles erzählt, was passiert war im Morgengrauen, wo Urban dem Tremplersohn aufgelauert hatte. Ist jetzt auch einerlei, dachte der Kraxner und hoffte, Fertl möge nun endlich verschwinden. Doch es kam anders, denn der sagte:
»Das andere, was ich noch zu sagen hätt: In zwei Stunden fangt der Sonntag an.«
Sagst mir nichts Neues, dachte Urban.
»Ist ein besonderer Tag, vor allem für die Agnes, Urban. Es ist Tobis Todestag. Weißt des?«
Todestag? Keine Ahnung hast du Kerl! Am liebsten würde er Fertl an seinem Kragen packen und schütteln. Wo ist denn die Leiche? Ha? Wochenlang hatten die Fuchsbichler mit Spürhunden die Mure abgesucht, doch nichts gefunden. Wer kann da Todestag feiern? Höchstens Vermisstentag.
Weitere Kostenlose Bücher