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Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer

Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer

Titel: Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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geben. Unbestreitbar wahr ist aber, dass Curtius ihr zeitlebens in väterlicher Zärtlichkeit zugetan blieb, treu bei Anna Walder blieb und nie eine andere Frau heiratete. Tief blicken lässt schließlich auch, dass er, als es ans Sterben ging, das Mädchen zu seiner Alleinerbin bestimmte.
    Mag also sein oder nicht sein, dass Marie aufgewachsen ist in der Zähringerstadt, die über die Jahrhunderte reich geworden war dank der Steuern, welche die Obrigkeit bei den Bauern erhob, und dank dem Sold junger Männer, die man in fremde Kriegsdienste geschickt hatte. Immer höher und mächtiger erhoben sich auf der Halbinsel an der Aare die grauen Sandsteinpaläste der Patrizier, immer prächtiger wurden ihre Sommerresidenzen, die sie außerhalb der Stadtmauern errichten ließen. Die Männer der herrschenden Familien trugen weiß gepuderte Perücken und die Frauen weit ausladende Reifröcke; sie prunkten mit silbernen Tabatièren, zarten Seidenschirmchen und kostbaren Möbeln, die sie in Paris bei den Hoflieferanten des Sonnenkönigs bestellt hatten. Und wer etwas auf sich hielt, sprach nicht Berndeutsch wie die Bauern, sondern Französisch.
    Je höher die von Wattenwyls, Tscharners, Graffenrieds, Steigers und von Steigers sich über das Volk erhoben, desto eifersüchtiger wachten sie über ihre Privilegien. Die Stadt, deren Tore im Mittelalter stets offen gestanden hatten, verschloss sich mehr und mehr allem Fremden gegenüber. Ihre Bürger regierten nicht mehr in republikanischer Freiheit, sondern beugten sich der Diktatur des Geldadels in einem Klima von Angst und Unterdrückung. Begehrten draußen in den Dörfern die Bauern gegen zu hohe Steuern auf, wurden ihre Anführer gevierteilt und deren Körperteile zur Warnung weit übers Land verteilt an die Scheunentore genagelt; wenn in der Stadt ein Bürger ungehörige Gedanken aussprach oder auch nur gotteslästerlich fluchte, wurde er zu Galeerenhaft in venezianischen Diensten verurteilt. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der als junger Mann in Bern Hauslehrer bei der vornehmen Familie Karl Friedrich Steigers war, schrieb entsetzt nach Preußen,«dass in keinem der Länder, die ich kenne, nach Verhältnis der Größe so viel gehängt, gerädert, geköpft, verbrannt wird als in diesem Kanton.»
    Man kann sich vorstellen, dass in dieser selbstgef älligen und fremdenfeindlichen Stadt dem jungen, ortsfremden Doktor Curtius, falls er tatsächlich hier war, die Patienten nicht gerade in hellen Scharen zuströmten. Also beschäftigte er sich damit, zu Studienzwecken Modelle menschlicher Organe in Wachs anzufertigen. Bald modellierte und verkaufte er auch Miniaturen ganzer menschlicher Körper beiderlei Geschlechts, und schließlich ging er aus kommerziellen Gründen dazu über, die Figuren in erotische Beziehung zueinander zu setzen, wofür besonders die Herren eines gewissen Alters und eines gewissen Standes lebhaftes Interesse zeigten. Im Herbst 1765 muss es gewesen sein, dass Curtius Besuch erhielt von Prinz Louis-François de Bourbon-Conti, einem Cousin Ludwigs XV. Ob sich der Bourbone für die naturgetreuen Nachbildungen von Lungen und Lebern interessierte oder eher für die pikanteren Exponate, ist unbekannt. Jedenfalls war er von Curtius’ Kunstfertigkeit derart beeindruckt, dass er ihn einlud, seine Wachsfiguren auch in Paris zu zeigen, und ihm eine monatliche Pension sowie eine elegante Wohnung an der vornehmen Rue Saint-Honoré anbot. Dieser nahm an und zog in die Lichterstadt – vorerst ohne die kleine Marie und ihre Mutter.
    Philipp Curtius kam zur richtigen Zeit an den richtigen Ort. Paris war in jenen Tagen die aufregendste Stadt der Welt. Noch herrschten die Bourbonenkönige in obszöner Pracht- und Machtentfaltung, aber unter der Oberfläche absolutistischer Herrschaft gärte die Freiheit. Rousseau schrieb«Du contrat social», Voltaire dachte über die beste aller Welten nach. Diderot hielt die Flamme der Aufklärung hoch, de Sade und Casanova zertrümmerten die Dogmen von Sitte und Moral. Und nach und nach tauchten jene auf, die wenige Jahre später das marode Ancien Régime zum Einsturz bringen sollten: Mirabeau, Lafayette, Robespierre, Danton, Marat, Benjamin Franklin.
    Bei seiner Ankunft aber musste Curtius feststellen, dass es in Paris schon über hundert Wachsfigurenkabinette gab und er sich anstrengen musste, wenn er gegen die Konkurrenz bestehen wollte. Erst konzentrierte er sich auf die Produktion erotischer Miniaturen, die reißenden Absatz

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