Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
Jean-Paul erhielt wegen seiner Kenntnisse in Französisch, Deutsch, Italienisch, Spanisch und Englisch eine Lehrlingsstelle im Kontor des Sklavenhändlers. Falls dem so war, könnte man verstehen, dass der große Kämpfer für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in späteren Jahren diese Episode seiner Jugend schamhaft verschwieg.
Immerhin blieb Marat in Bordeaux viel Zeit für eigene Studien. Er besuchte medizinische Vorlesungen an der Universität, und nebenher schrieb er einen Briefroman, dessen Held, der junge polnische Graf Patowski, durch Bürgerkrieg von seiner Verlobten getrennt wird und allerhand melodramatische Abenteuer zu bestehen hat, bevor er die Schöne zu guter Letzt vor den Traualtar führen darf. Das Werk hatte viel Ähnlichkeit mit Rousseaus Nouvelle Héloïse , die gerade in diesen Tagen erschienen war, und handelte hauptsächlich von Liebe und Leidenschaft; manche Passage aber ließ schon den späteren Revolutionär ahnen.«Wie grausam ist es», ruft beispielsweise Graf Patowski,«dass Mühsal, Elend und Hunger immer nur der großen Mehrheit zuteil werden, während Wohlstand und Genuss das Privileg einer kleinen Minderheit sind (…) Man muss dem Volk seine Rechte klarmachen und ihm Waffen geben, damit es die Tyrannen stürzt, die es in Knechtschaft halten.»
Leider brachte der Roman, da niemand ihn drucken wollte, Marat nicht den angestrebten Ruhm. Also nahm er Abschied von den Nairacs und zog nach Paris.
Als er 1762 in der Lichterstadt eintraf, war er neunzehn Jahre alt und mittellos, hatte keinerlei besondere Fähigkeiten und kannte keine Menschenseele. Sein Körper war entstellt von krummem Wuchs und Skrofulose, und die seelischen Folgen des Juckreizes hatten sich tief in sein Gesicht eingegraben. Trotzdem war er entschlossener denn je, in seinem Leben etwas wahrhaft Schönes zu leisten und seinen Namen für alle Zeit im Großen Buch der Menschheitsgeschichte festzuschreiben. Das Größte und Schönste aber, was in jenen Jahren auf der Welt Gestalt annahm, war Denis Diderots Encyclopédie – der Versuch, erstmals in der Geschichte der Menschheit die Summe allen Wissens in einem großen Werk festzuhalten. Beteiligt waren hundertvierzig der berühmtesten Gelehrten, unter ihnen d’Alembert, Voltaire, Montesquieu und Rousseau. Das war die Gesellschaft, die der junge Jean-Paul sich wünschte, da wollte er dazugehören. Er schrieb Diderot einen enthusiastischen Brief und bot ihm seine Mitarbeit an; dieser aber hatte den Namen des vorlauten Provinzknaben noch nie gehört und sah keinen Anlass, ihm zu antworten. Diese Kränkung sollte Jean-Paul zeitlebens nicht verwinden.
Drei Jahre blieb er in Paris und studierte Medizin, Physik und Philosophie. Seinen ersten Heilungserfolg hatte er 1765, als er einen Studenten vom Tripper befreite, damit dieser heiraten konnte. Dabei verfeinerte er die damals übliche Methode derart, dass der Patient erstens überlebte und zweitens seine Manneskraft behielt – ein erfreulicher Fortschritt, der dem jungen Arzt viel Kundschaft einbrachte. Kurz darauf zog er nach London und nahm Wohnsitz in Soho, dem schicksten Viertel Londons, wo sich seine Heilkunst ebenfalls rasch herumsprach. Zehn Jahre lang praktizierte Marat in London, Newcastle und Dublin, wobei sein Spezialgebiet die Geschlechtskrankheiten blieben. Als ihm die Universität Edinburgh 1775 den Doktortitel zusprach, tat sie dies in Würdigung seiner sanften Trippertherapie.
So aber hatte Marat sich das nicht vorgestellt, dass er lediglich als Tripperdoktor in die Geschichte eingehen würde. Also wandte er sich der wissenschaftlichen Lehre und Forschung zu. Er schrieb einen Essay Über den Menschen , in dem er den menschlichen Körper«als hydraulische Maschine aus Schläuchen und Säften»darstellte und den Sitz der Seele in der Hirnhaut lokalisierte. Dann folgte eine Abhandlung über Die Ketten der Sklaverei , die viel Ähnlichkeit mit Rousseaus Contrat Social hatte, und dann ein Aufsatz über Augenkrankheiten. Die Schriften wurden gedruckt, fanden auch einige Beachtung und wurden sogar ins Deutsche und Französische übersetzt. Marats größter Wunsch jedoch, dass die«Philosophes»in Paris ihn als einen der Ihren anerkannten, blieb unerfüllt. Diderot nahm ihn nun immerhin zur Kenntnis, aber nur um zu sagen, dass er keine Ahnung habe, worüber Marat schreibe; und der böse alte Voltaire sagte, hier mache ein Harlekin Kapriolen, um die Leute auf den billigen Plätzen zum Lachen zu bringen.
Marat
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