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Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer

Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer

Titel: Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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Dort hatte er den reformierten Glauben angenommen und eine Bürgerstochter namens Louise Cabrol geheiratet. Mit ihr war Mara senior dann – erst der Sohn sollte dem Familiennamen ein gut französisches T hinzufügen – nach Boudry am Neuenburger See gezogen, wo er Arbeit als Zeichner von Blumenmustern in der Indienne-Baumwolldruckerei Clerc & Cie fand. Ein paar Wochen später kam Jean-Paul, der erstgeborene Sohn, zur Welt.
    Da die Dorfkinder mit dem krummen und gelb überkrusteten Buben nicht spielen wollten, blieb er allein in der Obhut der Mutter, oder er verbrachte seine Tage in der Areuseschlucht, wo er im kühlen Bach Linderung von seinem Juckreiz fand. Mag sein, dass sich dort sein eigenbrötlerischer und rechthaberischer Charakter entwickelte und dass der schiefe Zwerg, gekränkt und gedemütigt, sich im Schatten der Tannen ausmalte, wie er es allen zeigen, unsterbliche Taten vollbringen und zu Ruhm und Ehre gelangen würde. Vier Jahrzehnte später schrieb er, dass er von klein auf getrieben gewesen sei von«amour-propre»und«faim de la gloire». Dieses blumige Französisch aus dem 18. Jahrhundert wörtlich zu übersetzen wäre unfair; in heutigem Deutsch hieße das wohl, dass Marat ein ernsthaftes Kind war, das im Leben etwas Gutes, Wahres und Schönes leisten wollte.
    Am Collège in Neuenburg war er ein unauffälliger Schüler, der den Pflichtstoff ohne Begeisterung erledigte, für sich allein aber Rousseau und Montesquieu las. Als er elf Jahre alt war, gab ihm ein Lehrer eine Strafe, die er ungerecht fand. Diese Demütigung kränkte ihn so sehr, dass er zwei Tage nichts aß und nicht mehr zur Schule ging; dem vom Vater verhängten Hausarrest entzog er sich durch einen Sprung aus dem Fenster, bei dem er sich eine Platzwunde an der Stirn zuzog.
    Niemand weiß, welchen Verlauf sein Leben genommen hätte, wenn er weniger einsam und weniger hässlich gewesen wäre und nicht so an Juckreiz gelitten hätte. Vielleicht wäre er am Neuenburger See geblieben und hätte ein geruhsames Leben als Winzer, Weinhändler oder Arbeiter in der Baumwollmanufaktur geführt. Gewiss hätte die Französische Revolution auch ohne ihn stattgefunden und König Ludwig XVI. auf der Guillotine geendet, und Napoleon wäre in jedem Fall nach Russland aufgebrochen. Aber möglicherweise wäre die Republik etwas später ausgerufen worden, und vielleicht hätte es auf dem Weg dorthin ein paar Massaker weniger gegeben.
    Getrieben von seiner«faim de la gloire», verließ Jean-Paul kurz nach dem sechzehnten Geburtstag das Elternhaus und zog in die Welt hinaus, um nie mehr an den Neuenburger See zurückzukehren. Später behauptete er, dass er allein aufs Geratewohl zu Fuß tausend Kilometer durch Frankreich gewandert sei und in Bordeaux, als ihm das Reisegeld ausging, eine Stelle als Hauslehrer beim vornehmen Reeder Pierre-Paul Nairac angenommen habe.
    Das wird nicht ganz so gewesen sein.
    Erstens hatte Nairac damals noch gar keine Kinder, die Marat hätte unterrichten können, und zweitens war er nicht nur Reeder, sondern auch einer der größten Sklavenhändler Frankreichs; seine Schiffe tauschten in Afrika bunt bedruckte Baumwollstoffe gegen Sklaven, brachten diese in die karibischen Plantagen und kehrten schwer beladen mit Kaffee und Zucker heim nach Bordeaux. Drittens heiratete Nairac am 5. Mai 1760, also genau zu der Zeit, als Marat von zu Hause aufbrach, und zwar ganz in Marats Nähe, in Nyon am Genfer See, die Tochter eines Appenzeller Baumwollhändlers, eine gewisse Jeanne Barbe Wetter. Nairac unterhielt wie viele französische Sklavenhändler rege Geschäftsbeziehungen mit der Schweiz, weil er die bunten Baumwollstoffe, die er als Zahlungsmittel in Afrika dringend brauchte, in Frankreich nicht bekam; Ludwig XIV. hatte 1686 das Bedrucken von Baumwolle verboten, um die traditionelle Textilbranche vor der neuen Konkurrenz zu schützen. Kurz darauf waren Schweizer Hugenotten in die Bresche gesprungen und hatten entlang der französischen Grenze zahlreiche Indienne-Druckereien gegründet.
    Es scheint also wahrscheinlich oder zumindest denkbar, dass Marat – dessen Vater ja ebenfalls in der Baumwollbranche tätig war – seinen Arbeitgeber Nairac in der Schweiz kennengelernt hat. Weshalb die Frischvermählten den kauzigen, koboldhaften Jüngling nach Bordeaux mitgenommen haben mögen, lässt sich nur erahnen. Vielleicht wünschte Nairac sich aus Sicherheitsgründen einen besonders hässlichen Laufburschen für seine junge Gattin, oder

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