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Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer

Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer

Titel: Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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fanden und sich rasch in den Boudoirs und Salons der guten Gesellschaft verbreiteten; bald aber ging er dazu über, die Berühmtheiten des Tages in Wachs zu verewigen. Allmählich wurde Curtius nun seinerseits berühmt für seine Wachsfiguren, die so lebensecht aussahen, als würden sie im nächsten Augenblick husten, auflachen, davonrennen oder nach dem Kutscher rufen. Wer immer gerade Stadtgespräch war, wurde in Curtius’ Salon de Cire in Wachs gegossen: Madame du Barry, die Kurtisane des Königs, der Räuber Cartouche, der Würger Lesobre oder der Postillonmörder Lefèvre, dann natürlich die königliche Familie, erst Ludwig XV., dann Ludwig XVI., Marie Antoinette und ihre Kinder.
    Nach zwei Jahren hatte sich Curtius soweit etabliert, dass er Marie und ihre Mutter nachkommen lassen konnte. Was für einen Eindruck die Rue Saint-Honoré auf die sechsjährige Marie gemacht haben mag, kann man nur ahnen. Tag und Nacht wimmelte es hier von grell geschminktem, vergnügungssüchtigem Volk, es gab Puppen- und Schattentheater, blutige Tierkämpfe mit Stieren, Wölfen und Hunden, Schwertschlucker und seiltanzende Affen, dann auch Handaufleger, Wahrsager, Magnetisten und Mesmeristen sowie Lustknaben und Huren jeder Couleur. Das Straßenpflaster war knietief bedeckt mit Pferdedung und menschlichen Exkrementen; zu Fuß ging hier nur, wer sich keine Kutsche leisten konnte. Die Pferdekutschen der Grandseigneurs preschten im Galopp durch die engen Gassen, und wenn gewöhnliches Volk unter die Hufe geriet, was Tag für Tag geschah, ließen die Herren nicht einmal anhalten – es sei denn, um nachzusehen, ob ein Pferd sich verletzt habe.
    In die Rue Saint-Honoré kamen die wohlhabenden Bürger von Paris, um ihr Geld zu verjubeln, und die Adligen, weil es ihnen am Hof von Versailles zu steif und zu förmlich zuging. Dass Marie in dieser eitlen Welt, in der nur Schönheit, Herkunft und Etikette etwas galt, gesellschaftliche Erfolge feierte, kann man sich schwer vorstellen. Als Tochter eines Dienstmädchens gehörte sie zur Kaste der Unberührbaren. Erschwerend kam hinzu, dass ihrem Französisch zeitlebens ein starker alemannischer Akzent anhaftete, was in Paris seit jeher als unverzeihlicher Fauxpas galt. Und dann war sie auch noch ein hageres, hoch aufgeschossenes und flachbrüstiges Mädchen mit einem vorsichtig abwartenden Temperament und einer Hakennase, in das sich niemand auf den ersten Blick verliebt hätte.
    Also streunte Marie nicht auf der Straße herum, sondern beobachtete scharf die Menschen, die sie sah, und machte sich im Kabinett ihres Beschützers nützlich. Schon als kleines Mädchen lernte sie zeichnen und modellieren, Wachs gießen und kolorieren, und an den fertigen Figuren pflanzte sie mit unendlicher Geduld und sicherer Hand Haar um Haar in das Wachs, jede einzelne Wimper, jedes Barthaar, die Brauen. Nach einiger Zeit fertigte sie ihre ersten Wachsfiguren allein an, und mit sechzehn Jahren war sie Curtius handwerklich ebenbürtig und dessen gleichberechtigte Geschäftspartnerin. Erstaunlich rasch entwickelte sie einen sicheren Instinkt für die Sensationslust des Publikums, und bald entschied sie gemeinsam mit ihrem Lehrmeister, den sie übrigens«Onkel»nannte, welche Tagesprominenz man in Wachs verewigen musste, um möglichst viele Schaulustige in ihren Salon zu locken.
    Ein verlässlicher Publikumsmagnet war die königliche Familie: Ludwig XVI. und Marie Antoinette beim Frühstück, Prinzessin Elisabeth beim Flachsspinnen, Kronprinz Louis Joseph im Jagdkostüm. Und da über die Jahre Doktor Curtius’ Kabinett berühmt geworden war bis hinaus nach Versailles, konnte es nicht ausbleiben, dass auch die Bourbonen die Ausstellung besuchten und dort gleichsam sich selbst gegenüberstanden. Will man Maries Memoiren Glauben schenken, war besonders Prinzessin Elisabeth, die jüngste Schwester des Königs, ein schwermütiges, dickes und zutiefst religiöses Mädchen von vierzehn Jahren, sehr beeindruckt von ihrem wächsernen Konterfei. Will man ihr weiter glauben, so lud die Prinzessin Marie nach Versailles ein, damit sie ihr Unterricht in der Kunst des Wachsmodellierens erteilte. Und will man ihren Erinnerungen wirklich blindlings folgen, so nahm Marie die Einladung im Herbst 1780 nicht nur an, sondern wurde auch gleich zur besten Freundin der Prinzessin, bezog im Nordflügel des größten Schlosses der Welt ein Zimmer neben Elisabeths Schlafgemach und wohnte dort acht Jahre lang, um die königliche Familie im

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