Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
Wachsportraits sollten hundertzweiundzwanzig Jahre lang als Attraktion in der«Chamber of Horrors»stehen.
Vor dem Gefängnistor herrschte eine Stimmung wie auf dem Jahrmarkt. Dreißigtausend johlende Menschen stießen und schubsten einander im Kampf um eine möglichst günstige Sicht auf den Galgen, der auf dem Gefängnistor errichtet worden war. Manche waren schon Tage zuvor angereist und hatten horrende Preise für einen Fensterplatz in einem der benachbarten Wohnhäuser bezahlt. Das wüste Treiben wurde vom jungen Charles Dickens beobachtet, der voller Entsetzen Notizen machte und noch gleichentags für die Times ein flammendes Pamphlet gegen die Barbarei öffentlicher Hinrichtungen verfasste.
Als die zwei Todgeweihten zum Galgen hinaufstiegen, wurde es ganz still. Während Henker William Calcraft, der in seiner Freizeit Blumen, Bienen sowie Tauben und Hasen züchtete und seit Jahrzehnten dafür berüchtigt war, dass er mit zu kurzen Seilen und geringer Fallhöhe seinen Opfern unnötig lange Todesqualen bescherte, den beiden die Schlingen um den Hals legte, suchte Fredericks gefesselte rechte Hand ein letztes Mal nach Maries linker. Ein menschenfreundlicher Wächter, dessen Namen niemand niedergeschrieben hat, führte die zwei Hände zusammen.
8 Adolf Haggenmacher
Adolf Haggenmacher hatte das Unglück, zeitlebens am falschen Ort zu sein – und wenn er mal am richtigen Ort war, dann gewiss zur falschen Zeit. Das begann schon bei seiner Geburt am 3. Mai 1845 auf einer kleinen Flussinsel in der Nähe von Brugg, wo Aare und Limmat zusammenflossen und bei Hochwasser, da sie noch nicht gezähmt waren von Stauwehren und Kanälen, ganze Äcker, Weiden und Bauernhöfe mit sich rissen. Sein Vater, der als Söldner in den Niederlanden Kriegsdienst geleistet hatte und durch Heirat mit einer zwanzig Jahre älteren Baronin zu einem hübschen Vermögen gekommen war, hatte nach deren Tod die Insel gekauft, darauf ein Landhaus im holländischen Stil mit Turmzimmer bauen lassen und in biedermeierlicher Weltflucht eine kleine Landwirtschaft mit einer Kuh, einer Ziege und einem Schaf gegründet. Dann hatte er die fünfzehnjährige Wirtstochter Marie Eichenberger vom Gasthaus Sternen am gegenüberliegenden Aareufer geheiratet, und neun Monate später hatte Adolf Haggenmacher das Licht der Welt erblickt.
Adolf wuchs unter seltenen Obstbäumen und Reben heran, die der Vater eigenhändig gepflanzt hatte, und in Gesellschaft von Hunden, Katzen und Hühnern sowie seiner Schwester Marie, die fünf Jahre nach ihm zur Welt kam. Die junge Mutter aber langweilte sich schrecklich in der insularen Abgeschiedenheit. Zwar baute der weltenmüde Ehemann eine Drahtseilfähre über die Aare, damit sie die Eltern im Sternen besuchen und Adolf ans Festland zur Schule schicken konnte; aber die Einsamkeit scheint schwer auf der Familie gelastet zu haben. Sogar der zwanzig Jahre ältere Ehemann gestand schon im zweiten Inseljahr, dass er ein«sehr ungeduldiger Einsiedler»geworden sei.
Kurz vor Adolf Haggenmachers fünftem Geburtstag starb am 16. April 1850 fernab in London im neunundachtzigsten Lebensjahr Marie Tussaud, geborene Grosholtz. In den letzten fünfzehn Jahren ihres irdischen Daseins war sie mit ihren Wachsfiguren nicht mehr durchs Land gezogen, sondern hatte an der Baker Street in London ein festes Museum unterhalten, in dem sie an jedem einzelnen Tag des Jahres von der Türöffnung bis zur Sperrstunde im Kassenhäuschen gesessen und von jedem Besucher freundlich, aber unerbittlich den Eintrittspreis kassiert hatte. Die letzte Wachsfigur, die sie eigenhändig schuf, vollendete sie 1842 mit einundachtzig Jahren; es war ein Selbstportrait. Es geht die Legende, dass nach Marie Tussauds Beerdigung die Trauergemeinde ins Museum an der Baker Street zog, wo am Eingang die Angehörigen ein heiliger Schrecken ereilte, weil im Kassenhäuschen das wächserne Abbild der Matriarchin saß, als wäre sie gar nicht tot, sondern würde für immer und ewig darüber wachen, dass jeder Besucher auch wirklich Eintritt bezahlt.
Besonders hart auf die Probe gestellt wurde das Einsiedlertum der Haggenmachers während der zahlreichen Hochwasser, die jeweils Haus und Hof mitzureißen drohten. Um die Neujahrstage 1851 stand die ganze Insel unter Wasser. Der sechsjährige Adolf musste mit Mutter und Schwester in den Sternen fliehen, während der Vater mit dem Knecht zurückblieb und das Vieh in einen höher gelegenen Hausgang trieb. Die Mutter stand die ganze
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