Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
die Lüfte und somit auch über das gekrönte Haupt des Bourbonenkönigs erhob. Schon zwei Jahre später überquerte ein bemannter Ballon den Ärmelkanal, weitere acht Jahre später wurde Ludwig XVI. guillotiniert und Napoleon Bonaparte, der Paulis Vorladergewehre verschmäht hatte, beschaffte für seine Grande Armée eine ganze Staffel von Fesselballons. Zwar erlitten Napoleons Truppen trotzdem vernichtende Niederlagen und kehrten die Bourbonen nach dem Wiener Kongress für ein paar Jahre an die Macht zurück, aber das Bürgertum, das nun den frischen Wind einer neuen Epoche in der Nase hatte, wollte von seiner Begeisterung für die Luftschifffahrt nicht mehr lassen.
Männer wie Pauli, der mit seinem Fliegenden Delphin den uralten Traum vom Fliegen wahr machte, waren in den Salons der guten Pariser Gesellschaft die begehrtesten Gäste, und unter den jungen Damen aus gutem Haus galt es als äußerst verwegen und schick, sich für viel Geld einen Platz im Korb eines Ballons zu sichern. Der Luftballon war im 19. Jahrhundert ein Sinnbild für das Selbstbewusstsein des erstarkten Bürgertums, das sich von den Fesseln der feudalen Vergangenheit gelöst hatte und nun frei und ungebunden seinen sozialen Aufstieg genoss. Für Stunden, manchmal sogar Tage verschafften Heißlüfter und Fesselballons ihren Passagieren die Illusion, sich vom Zwang der Schwerkraft befreit zu haben und sich nach eigenem Gutdünken durch den Raum zu bewegen. Eines aber blieb stets klar: das köstliche Gefühl der Freiheit war nur in der vertikalen Achse zu haben – in der Horizontalen bestimmte weiterhin der Wind, wohin die Reise ging, solange keine leichten, flugfähigen Antriebsmaschinen zur Verfügung standen.
Zwar blieb so nur die Vertikale als Manövrierachse, aber die konnte sich durchaus horizontal auswirken – denn manchmal bläst der Wind in Bodennähe aus Westen, tausend Meter weiter oben hingegen aus Süden und noch einmal tausend Meter höher vielleicht aus Nordosten. Spelterini scheint schon nach wenigen Flügen einen bemerkenswerten Instinkt dafür entwickelt zu haben, auf welcher Höhe der Wind aus welcher Richtung blasen könnte. Bald nahm er in gemieteten Ballons zahlende Fahrgäste mit. 1887 ließ er sich vom Atelier Surcouf in Paris nach seinen Anweisungen einen eigenen Ballon herstellen. Dieser bestand aus sonnengelber, leinölgetränkter Seide, fasste tausendfünfhundert Kubikmeter Wasserstoff und soll vierzehntausend Francs gekostet haben. Die Hülle war aus lauter einen halben Quadratmeter großen Quadraten und Rauten zusammengenäht; damit war sichergestellt, dass ein Riss im Ballonstoff sich nicht weiter als bis zur nächsten Naht ausdehnen würde. Über den gesamten Ballon war ein Netz aus starken Hanfseilen gespannt, das den Druck gleichmäßig über die Hülle verteilte; es lief an der Unterseite in einem Holzring zusammen und endete in acht Seilen, an denen der Weidenkorb hing. Spelterini taufte sein Luftschiff, der Muse der Sternkunde zu Ehren, auf den Namen«Urania».
Wenn Spelterini in die Luft ging, war das ein Spektakel, dem Tausende von Schaulustigen beiwohnten. Schon Stunden vor dem Aufstieg fanden sich die zahlenden Zuschauer auf dem Startplatz ein, um eine möglichst gute Sicht zu haben, und kurz vor dem Aufstieg gab es ein Platzkonzert. Spelterini war ein großer und stattlicher Mann mit einem schönen Kopf, schwarz gelocktem Haar, stahlgrauen Augen und einem kräftigen Schnurrbart. An den Fingern trug er schwere, orientalisch glitzernde Ringe. Er war ein charmanter Plauderer und hatte die Manieren eines viktorianischen Gentlemans, was den Damen sehr gefiel. Während der letzten Vorbereitungen zum Flug jedoch, von deren gewissenhafter Ausführung sein Leben und das seiner Passagiere abhing, konnte er laut und energisch werden. Wenn schließlich die Ballonhülle gefüllt war und die Fahrgäste startbereit im anderthalb Quadratmeter engen Weidenkorb standen, stieg der Kapitän auf den Korbrand und hielt sich mit einer Hand an einem Seil fest, schwang mit der anderen seine weiße Mütze und rief«Attention – lâchez tout!», worauf der Ballon sanft, leicht und geräuschlos gen Himmel schwebte. Hatte das Luftschiff seine Reisehöhe von fünfhundert, tausend oder viertausend Metern erreicht, intonierte er zum Vergnügen der Fahrgäste mit schönem Bariton die Arie des Toreros Escamillo aus Bizets Oper Carmen . Anschließend holte er die erste Flasche Champagner aus dem Eiskasten und öffnete den
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