Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
aufgriff und zurück an Land brachte.
Da er auf seinen spektakulären Flügen nebst zahlenden Gästen oft auch Presseleute mitnahm, wuchs sein internationaler Ruhm rasch. Nach weiteren Reisen in den Nahen Osten und bis nach Südafrika kehrte er 1891 für zwei Jahre in die Schweiz zurück. Er stieg in Zürich im Hotel Baur au Lac ab, im ersten Hause der Stadt, wo nebst reichen Engländern gelegentlich auch Kaiserin Sissi oder die russische Tsarina, Kaiser Wilhelm II., Richard Wagner und Franz Liszt residierten. Bei den Bürgern erregte Spelterini Aufsehen mit seiner schmucken blauen Phantasieuniform und dem großen, goldenen Orden auf der Brust. Am meisten zu reden gab, dass der geheimnisvolle Kapitän um Fahrgäste warb. Das war neu im Limmatstädtchen. Die wenigen Ballonfahrer, die in den letzten Jahrzehnten hier Station gemacht hatten, waren stets allein aufgestiegen und hatten sich darauf beschränkt, den Zuschauern das Schauspiel ihrer eigenen, meist sehr kurzen Luftfahrten zu bieten. Rasch wurden Stimmen laut, die es Spelterini zum Schutz der Einheimischen verbieten wollten, zahlende Gäste auf seine gefährlichen Fahrten mitzunehmen; andere meinten, wenn es in Zürich tatsächlich jemanden gebe, dem das Leben verleidet sei, so solle man ihm eben erlauben, mit dem Luftschiffkapitän in jene Höhen zu steigen, in denen man die Engel singen hört. Schließlich beschloss die Obrigkeit, auf ein Verbot zu verzichten, damit die Stadt von der internationalen Presse nicht wieder als zwinglianisch-sittenstrenges Provinznest bezeichnet werde, was leider ziemlich oft der Fall war.
Wenn sich die«Urania»nach einigen Wochen der Vorbereitung, der Fahrgast- sowie der Zuschauerwerbung in die Luft erhob, mal vom Heimplatz unterhalb der Universität aus, mal beim Gaswerk außerhalb der Stadt, war das stets ein großes Volksfest. Im abgesperrten Bereich um die Gondel gab es Sitzplätze zu einem oder zwei Franken, in den Bäumen ringsum hingen die Buben stundenlang in den Ästen, und auf dem nahen See schaukelten Dutzende von Booten mit zahlungsunwilligen Schaulustigen. Um sich die Wartezeit zu verkürzen, erörterten die Männer ernst den wissenschaftlichen, sportlichen und militärischen Nutzen der Luftschifffahrt, und unter den Damen gab es, den Gepflogenheiten jener Epoche folgend, fast immer eine liebende Mutter oder eine in zärtlicher Leidenschaft entflammte junge Dame, die mit großer Zuverlässigkeit just in dem Augenblick in Ohnmacht fiel, da ein draufgängerischer Jüngling aus gutem Hause zu Spelterini in die Gondel stieg.
Der Kapitän unternahm Dutzende Flüge von Zürich, Winterthur und St. Gallen aus. Nebst wohlhabenden zahlenden Gästen hatte er auch Physiker, Mediziner, Geologen und andere Wissenschaftler an Bord, die allerlei Experimente anstellten – mehrmals auch Ferdinand Graf von Zeppelin, der sich erste Gedanken über ein lenkbares Luftschiff machte. Auch die Schweizer Armee interessierte sich für Spelterini. Im Juli 1891 unternahmen der Genfer Major Théodore Schaeck und der Zürcher Hauptmann Hermann Steinbuch eine Fahrt mit ihm, im August die Obersten Albert und Paul von Tscharner. Sie kamen zum Schluss, dass die Luftfahrt in naher Zukunft von großer militärischer Bedeutung sein würde, worauf die schweizerische Landesregierung nach gehörig langer Vernehmlassung 1895 die Aufstellung einer Luftschifferkompanie verfügte.
Mehr als zwei Jahre blieb der rastlose Flieger in der Schweiz. Am 27. August 1893, dem letzten, prächtigsten Sommersonntag jenes Jahres, stieg er sogar hinunter ins heimatliche Bazenheid, und zwar mit geradezu überirdischer Grandezza. Von Winterthur war er mit der goldgelben«Urania»aufgestiegen, als er am frühen Nachmittag auf einer Wiese landete, die kaum zwei Kilometer von seinem Geburtshaus entfernt lag. Spelterini unternahm mit seinen Fahrgästen einen Spaziergang durchs Dorf, wo ihn nach Jahrzehnten der Abwesenheit niemand wiedererkannte, kehrte in der Krone ein und verkündete geheimnisvoll, dass er sich hier auf Heimat- und Bürgerland befinde. Dann bezahlte er die Rechnung und hinterließ ein fürstliches Trinkgeld, verließ leichthin seinen Geburtsort und kehrte nie wieder zurück.
Drei Monate später bemerkten seine Zürcher Freunde, dass er wieder verschwunden war – wohin, wusste niemand. Angeblich war er auf Umwegen nach St. Petersburg und Moskau geraten, wo er als Balloninstruktor in der Armee des Zaren diente. 1895 tauchte er wieder in der internationalen
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