Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
Eisenbahn -, ist unbekannt.
Beweisen oder widerlegen lässt sich die schöne Geschichte von der Auswanderung in den Süden nicht. In Bazenheid reichen die weltlichen und kirchlichen Archive nicht weit genug in die Vergangenheit, und in Lugano wurde, soweit bekannt, niemals ein Schüler mit Eduards Namen verzeichnet. Entscheidet man sich aber dafür, dieser Geschichte zu folgen, so zog Eduard kurz nach dem achtzehnten Geburtstag, mittlerweile erwachsen und sozusagen zum Italiener herangereift, nach Mailand und dann weiter nach Paris, um sich am Konservatorium zum Opernsänger ausbilden zu lassen. Dort aber erkrankte er an Tuberkulose, fuhr zur Kur nach Südfrankreich und erhielt in Marseille zufällig Gelegenheit für eine erste Ballonfahrt, als ihm ein ängstlicher Passagier in letzter Minute den Platz in der Gondel überließ.
Das kann alles so gewesen sein – auch wenn am Konservatorium von Paris zur fraglichen Zeit weder ein Student namens Spelterini noch ein solcher namens Schweizer eingeschrieben war.
Vielleicht war’s aber auch ganz anders.
Vielleicht war es so, wie Oberst Ernst Theodor Santschi, ein anderer Pionier der Ballonfahrt und viele Jahre Kommandant der schweizerischen Luftschifftruppen, der Eduard persönlich gekannt hat, Mitte des letzten Jahrhunderts behauptete: dass dessen Vater Sigmund mit seiner Familie weder 1860 noch später aus dem Toggenburg fortzog und der junge Eduard erst mit achtzehn Jahren das Elternhaus in Bazenheid verließ, und zwar Hals über Kopf von einem Tag auf den anderen, vielleicht wegen einer unglücklichen Liebesgeschichte oder im Streit mit dem Vater, um in Hamburg eine kaufmännische Lehre zu beginnen.
Wie auch immer. Auf alle Fälle muss Eduard irgendwann Mitte der 1870er-Jahre erstmals in den Korb eines Fesselballons gestiegen sein. Und in dem Augenblick, da er zum ersten Mal in seinem Leben die Schwerkraft überwand, dem Himmel entgegenschwebte und sich endgültig von der bäuerlichen Scholle löste, die ihn und seine Vorfahren seit Anbeginn der Zeit festgehalten hatte, muss er beschlossen haben, nie wieder ins Toggenburg zurückzukehren, den Namen seiner Väter genauso abzulegen wie das Andenken an seine Herkunft, sich fortan Spelterini zu nennen und fernab aller Erdenschwere ein freies, ungebundenes Leben über entlegenen Ländern und den schönsten Städten dieser Welt zu führen.
Weshalb Eduard ausgerechnet auf den Namen Spelterini verfiel, weiß man nicht. Der Name klingt ausgesprochen italienisch, ist es aber nicht. In den Telefonbüchern und Namenregistern Italiens taucht er nirgendwo auf, und auch zu Spelterinis Zeit gab es, soweit bekannt, außer ihm weltweit nur eine einzige Person, die diesen Phantasienamen trug: die geheimnisvolle Seiltänzerin Maria Spelterini, von der nur überliefert ist, dass sie aus dem Nichts in New York auftauchte und im Juli 1876, während der Hundertjahrfeiern der Vereinigten Staaten von Amerika, internationales Aufsehen erregte. Sie hatte dreiundzwanzigjährig als erste Frau die Niagarafälle auf dem Hochseil überquert, und zwar mit einer italienischen Tracht am Leib sowie, zwecks Steigerung der Gefahr, mal mit verbundenen Augen, gefesselten Händen oder mit zwei Pfirsichkörben an den Füßen. Da Eduard genau zu jener Zeit erstmals als Spelterini in Erscheinung trat, ist es recht wahrscheinlich, dass er in der Zeitung von ihr las und seinen neuen Namen in Anlehnung an die wagemutige Seiltänzerin wählte.
Von da an war Spelterini überall und nirgendwo zu Hause. Wie ein Komet tauchte er – für kurze Zeit nur – aus fernen Landen auf, um ebenso schnell und lautlos wieder zu verschwinden. Niemand wusste, woher er kam, wohin er ging, wovon er seinen Lebensunterhalt bestritt, ob er Junggeselle, verheiratet oder Witwer war. Wenn er in den schönen Hotels der Welthauptstädte abstieg, war er, zumindest offiziell, immer allein und ohne Begleitung. Einigermaßen gesichert ist, dass sich Eduard Schweizer-Spelterini ab Mitte der siebziger Jahre oft in Paris aufhielt. 1877 ernannte ihn die Académie d’Aérostation de France zum Luftschiffer. Ein Jahr später gelang ihm auf ein Preisausschreiben des Petit Journal hin ein Zielflug, der ihn vom noblen Pariser Vorort Neuilly über die Seine zum nahen Bois de Boulogne führte.
Paris war die unbestrittene Welthauptstadt der Ballonfahrt, seit im November 1783 König Ludwig XVI. nach einigem Zögern die Erlaubnis erteilt hatte, dass erstmals seit Bestehen der Welt ein Mensch sich in
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