Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
Munzinger und seine Frau Oulette-Mariam, die ihn auf dem Feldzug begleitet hatte, starben auf dem Schlachtfeld. Adolf Haggenmacher, der seine Gattin hochschwanger in Kairo zurückgelassen hatte, konnte sich durchschlagen und floh mit einigen Soldaten in Richtung Küste. Er starb, von den Feinden vier Tage lang verfolgt, an Hunger, Durst und Erschöpfung am Ufer des Assalsees.
Drei Wochen später, am 6. Dezember 1875, gebar Adolfs Frau in Kairo einen gesunden Knaben, den sie Konrad taufte. Nachdem dessen Brüder Fritz und Eduard gestorben waren, holten die Haggenmachers den Buben nach dessen achten Geburtstag in die Schweiz, wo er sich aber nie zurechtfand. Im Sommer 1892 statteten sie den inzwischen siebzehnjährigen«Schwarzen Konrad»mit Kleidern, Schuhen und einem Revolver samt Munition sowie den besten Wünschen aus und ließen ihn ans Horn von Afrika reisen, wo er in Dschibuti unweit des Assalsees, an dem sein Vater gestorben war, eine Stelle bei einer französischen Handelsgesellschaft antrat. In der Folge lebte er mal als Schreiber für die Usambara-Eisenbahn in Deutsch-Ostafrika, dann als Dolmetscher auf dem deutschen Handelsschiff Teutonia, mit dem er aber in einem Sturm vor der Arabischen Halbinsel Schiffbruch erlitt und sich schwimmend auf eine Insel retten konnte. Seine Spur verliert sich 1909, als er in Khartum als Monteur beim Bau der ersten Eisenbahnbrücke über den Blauen Nil arbeitete.
9 Eduard Spelterini
Das größte Geheimnis in Eduard Spelterinis Leben war, dass er, der von London bis Moskau und von Kopenhagen bis Kapstadt berühmt wurde als König der Lüfte und Bezwinger der Schwerkraft, der mit Fürsten, Generälen und den größten Wissenschaftlern seiner Zeit auf vertrautem Fuß stand und in den mondänsten Hotels von Paris, Wien, Konstantinopel und Kairo ein und aus ging – dass er seiner Herkunft nach gar kein Weltbürger war, sondern am 2. Juni 1852 in einem weltabgeschiedenen Bauerndorf namens Bazenheid im schweizerischen Toggenburg zur Welt gekommen war. Auch hieß er mit bürgerlichem Namen nicht Spelterini, sondern war der leibliche Sohn des Schankwirts und Bierbrauers Sigmund Schweizer und dessen Ehefrau Maria Madgalena, geborene Sütterli. Bis an sein Lebensende hat er das keinem Menschen verraten. Weshalb, weiß man nicht.
Der Himmel steht hoch und die Täler sind weit im Toggenburg, und der Blick geht frei und ungehindert bis zum Horizont, wo sich stolz der Säntis und die Churfirsten türmen. Aber als Ballonfahrer und Himmelsstürmer wird hier keiner geboren. Seit tausend Jahren arbeiten die Toggenburger hart als Bauern auf kleinen, weit auseinander liegenden Höfen, und zu Spelterinis Zeit verdienten sie sich abends in ihrer Stube ein Zubrot, indem sie im Schein der Öllampen Webstühle betrieben und Stickereien anfertigten. Entlang der Flussläufe hatten sich einige Textilfabriken angesiedelt. In den Dörfern des Talbodens waren Schmiede, Schneider, Wagner und Hafner ansässig, die ganz im Dienst der bäuerlichen Kundschaft standen. Einmal im Monat fand ein Markt in Bazenheid statt. Dann stiegen die Bauern von ihren Höfen herunter, um Geschäfte zu machen, und wenn alles erledigt war, kehrten sie für eine Stunde im Gasthof Krone ein oder im Neuhaus, der danebenliegenden Bierstube, die seit Anfang des 19. Jahrhunderts von einer Familie namens Schweizer betrieben wurde.
Sicher ist, dass der kleine Eduard hier, zwischen Bierbottichen, Wirtshausbänken und Bauernbeinen, die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte und dass er, nachdem sein zwei Jahre älterer Bruder Gustav und die ein Jahr ältere Schwester Lidia früh gestorben waren, als Einzelkind heranwuchs. Ob er aber auch in Bazenheid zur Schule ging, ist ungewiss. Will man seinen wenigen Biographen glauben, die sich fast alle vertrauensvoll aufeinander berufen, verschwand Eduard schon als Achtjähriger aus dem Toggenburg. Um das Jahr 1860 soll es gewesen sein, dass sein Vater, von Sehnsucht nach dem Süden gepackt, Bierstube und Brauerei verkaufte und ein Heimwesen in der Nähe von Como erstand, von wo aus Eduard fortan nach Lugano zur Schule ging, Italienisch lernte und bald auch entdeckt haben soll, dass er über eine sehr schöne Stimme verfügte, die sich bestens zum Singen italienischer Opern und Operetten eignete. Mit welchem Verkehrsmittel der Achtjährige zweimal täglich den dreißig Kilometer langen Schulweg zwischen Como und Lugano zurückgelegt haben könnte – zumal vier Jahre vor Eröffnung der
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