Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
Schließlich fand sich eine vermögende Fanny Forst aus Koblenz am Rhein, die der Winterthurer Kaufmannsfamilie Biedermann entstammte, eine romantische Schwäche für die Luftschifffahrt hatte und bereit war, die Anschaffung eines neuen Ballons zu finanzieren, den Spelterini auf den Namen«Wega»taufte. Im Namen der Wissenschaft riefen die Professoren Maurer und Heim in allen Schichten der Gesellschaft zu Spenden auf, wobei auch Naturalien willkommen waren. Als zahlungskräftiger Fahrgast meldete sich ein Industrieller namens Alfred Biedermann aus Lodz in Polen, der ebenfalls der erwähnten Winterthurer Kaufmannsfamilie angehörte.
Nachdem die eigens aus Paris angeforderte Wasserstoffmaschine in Sitten eingetroffen war, wurde am Abend des 26. September 1898 auf der Place d’Armes im Zentrum von Sitten mit dem Füllen des Ballons begonnen. Vier Tage später war die Hülle rund und prall – aber der erhoffte Wind aus Südwesten, der eine Fahrt über die Finsteraarhorngruppe, die Urner- und die Glarneralpen bis ins St. Gallische Rheintal ermöglicht hätte, wollte sich nicht einstellen. Man wartete einen Tag, dann noch einen. Sorgenvoll bewachte Spelterini seinen strahlend neuen Ballon, der fest vertäut auf dem Platz stand. Wenn man zu lange wartete, würde allmählich der Wasserstoff aus der Hülle austreten, und mit jedem weiteren Tag würde die Gefahr wachsen, dass ein plötzlich einsetzender Föhnsturm den Ballon in Fetzen riss. Also gab der Kapitän am Morgen des dritten Tages – obwohl noch immer Südostwind statt Westwind herrschte – das Zeichen zum Aufbruch. Am 3. Oktober 1898 morgens um 10.53 Uhr stieg die«Wega»mit Spelterini, Maurer, Heim und Biedermann zur ersten Überfliegung der Hochalpen auf. Kaum hatte das Luftschiff die Erde verlassen, wurde es vom Föhn erfasst und rhoneabwärts getrieben; nach ein paar Minuten aber warf der Kapitän, um in höhere Luftschichten zu entkommen, die ersten von dreihundertzweiundneunzig zugeladenen Sandsäcken ab, und schon um 11.41 Uhr trieb der Ballon in viertausenddreihundertfünfzig Metern Höhe über die tausend Meter tiefer liegenden, schneeweißen Gipfel der Diablerets und weiter über zahlreiche vergletscherte Alpenkämme. Erleichtert stellten die Aeronauten fest, dass sie ohne die geringsten Abwinde, Abweichungen oder Hindernisse gleichmäßig in stabiler Höhe geradeaus fuhren. Die Reise ging übers Greyerzerland und nördlich am Genfer See vorbei zum Neuenburger See, über den Jura und in stetig geradlinig nordwestlicher Richtung weiter ins französische Burgund. Der Geologe Heim maß fortlaufend die Höhe und die geographische Position. Der Meteorologe Maurer beobachtete Barometer, Thermometer und Hygrometer. Kapitän Spelterini fotografierte und bediente das Luftschiff. Passagier Biedermann diente allen als Handlanger.
Nach fünfstündiger Fahrt ereignete sich ein kleines Drama, das Professor Heim später für die Nachwelt festhielt. Die«Wega»war in Frankreich auf über sechstausendachthundert Meter gestiegen, was mit großen Beschwerden für die Passagiere verbunden war. Alle litten unter Mattigkeit, Nasenbluten und Atemnot, die Gesichter färbten sich grau oder dunkelbraun, und die Bärte hingen voller Eis. Den Wissenschaftlern war klar, dass jeder weitere Aufstieg Lebensgefahr bedeutete und man unbedingt vor Anbruch der Nacht zur Erde zurückkehren musste. Spelterini aber hatte die Gelegenheit gewittert, mit seinem neuen Fesselballon gleich bei der ersten Fahrt den Höhenrekord zu brechen. Er lockte und bezirzte seine Fahrgäste unter Aufbietung seines in langen Jahren erworbenen Charmes, versprach eine rasche und einfache Rückkehr in die Schweiz, da weiter oben ein Westwind wehe, der das Gefährt nach Hause treiben werde – und als das alles nicht verfing, schützte er vor, er könne die Ventilleine für den Abstieg nicht ziehen, weil er vergessen habe, welche von den zwei aus dem Ballon herunterhängenden Leinen die normale und welche die Reißleine sei – wenn er aber Letztere erwische, würden sie sofort abstürzen.
Damit aber geriet Spelterini bei Albert Heim an den Falschen. Der Professor litt zwar unter Höhenkrankheit, kauerte zusammengesunken mit vereistem Bart im Korb und war zu schwach, sich zum Schutz vor der Kälte den Mantel überzuziehen, aber er war ein Mann der Wissenschaften, der von Berufs wegen einen kühlen Kopf behielt, und darüber hinaus ein erfahrener Bergsteiger. Er hatte mehrere Abstürze überlebt und 1892 aufgrund
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